Notwehr: Wenn das Opfer zum Täter wird

18.05.2010, Autor: Herr Mark Pilz / Lesedauer ca. 13 Min. (4364 mal gelesen)
Hier geht es um Probleme die entstehen können wenn man in Notwehr oder im Rahmen der Nothilfe eine Person verletzt hat und wie man danach ins Visier der Ermittlungsehörden gerät.

1 Grundgedanken

Jeder der in die Situation gerät, sich in Notwehr gegen einen Angreifer verteidigen zu müssen, wird in der Regel anschließend feststellen müssen, dass gegen ihn ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung geführt wird, obwohl er sich doch nur gewehrt hat. Aus der Sicht der das Ermittlungsverfahren leitenden Staatsanwaltschaft ist dies leider häufig nicht so eindeutig, wie aus der Perspektive des Betroffenen. Da die Notwehrsituation systembedingt nur nachträglich durch die Ermittlungsbehörde beurteilt werden kann, ergeben sich für den betroffenen Verteidiger Gefahren, die im schlimmsten Fall dazu führen können, dass er als eigentliches Opfer nun zum Täter gestempelt und bestraft wird. Einige dieser Gefahrenquellen sind Gegenstand dieses Artikels.

2 Warum auch der sich Verteidigende ins Visier der Staatsanwaltschaft gerät

Zunächst ist klarzustellen, dass jede körperliche Verletzung eines anderen Menschen - auch die einem anderen in Notwehr zugefügte Verletzung - eine tatbestandliche Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB (Strafgesetzbuch) ist. Wegen des in § 152 Abs. 2 StPO (Strafprozessordnung) niedergelegten sogenannten Verfolgungszwangs ist die Staatsanwaltschaft gesetzlich verpflichtet, immer dann strafrechtliche Ermittlungen einzuleiten, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für eine Straftat vorliegen. Wenn ein Mensch durch einen anderen verletzt worden ist - aus welchem Grunde auch immer - liegen stets tatsächliche Anhaltspunkte für die Möglichkeit vor, dass eine verfolgbare Straftat der Körperverletzung begangen worden ist. Also wird auch gegen den sich Verteidigenden ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. In dessen Rahmen sollen dann die Umstände der Tat geklärt werden. Derjenige, der sich verteidigt hat, wird trotz des erfüllten Tatbestandes der Körperverletzung nicht betraft, wenn er sich auf einen Rechtfertigungsgrund berufen kann, er also nicht rechtswidrig gehandelt hat. Ein solcher Rechtfertigungsgrund ist insbesondere die Notwehr. Ob bei ihm die Voraussetzungen der Notwehr gegeben waren oder nicht, ist im Rahmen des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft zu untersuchen.

Die juristisch recht komplexen Voraussetzungen der Notwehr behandele ich hier nicht. Es muss bedacht werden, dass man im Falle eines Angriffs niemals die Zeit hat, darüber zu sinnieren, ob die beabsichtigte Verteidigungshandlung nun noch von der Notwehr gedeckt ist oder nicht. Dem Angriff muss im Sinne der eigenen körperlichen Unversehrtheit entschieden begegnet werden. Gleichwohl darf die Tatsache nicht aus den Augen verloren werden, dass auch in der Notwehr der Angreifer nicht unnötig - also nicht mehr als erforderlich - verletzt werden darf. Dies bewertet die Ermittlungsbehörde allerdings im Nachhinein. Und was bei diesen Überlegungen herauskommen mag, ist nicht immer vorherzusehen. Es gilt also, sich im eigenen Interesse, vor möglichen Ermittlungsverfahren schon so früh wie möglich zu schützen, damit solche Probleme erst gar nicht entstehen.

3 Was eine Notwehrsituation im Nachhinein für das Opfer gefährlich macht

Im Zuge des Ermittlungsverfahrens kann die Staatsanwaltschaft auf zwei gefährliche Wege geraten: Zum einen könnte sie zu Lasten des Verteidigers bereits eine Notwehrsituation verneinen. Zum anderen könnte sie annehmen, dass die konkrete Verteidigungshandlung nicht „erforderlich" im Sinne des § 32 StGB gewesen ist, der Verteidiger sich also über Gebühr heftig verteidigt hat (zum Begriff der Erforderlichkeit später mehr). In diesen Fällen wird der sich gegen einen Angriff Verteidigende bei nachträglicher strafrechtlicher Prüfung als Täter wahrgenommen und nicht als Opfer. Wie kann es dazu kommen?

Im ersten Fall könnte die Notwehrsituation verneint werden, weil beispielsweise ein Zeuge aussagt, der eigentliche Verteidiger habe angegriffen und nicht der wirkliche Aggressor. Im zweiten Fall - Verneinung der Erforderlichkeit der konkreten Verteidigung - liegt die Ursache tiefer: Nämlich in den „zivilisierten" Vorstellungen von Staatsanwaltschaft und Gericht über die Erfordernisse sachgerechter Verteidigung und mangelnder eigener Erfahrung.

3.1 „Rollentausch" und Falschaussage

Zunächst zu der Möglichkeit, dass ein Zeuge aussagt, der eigentliche Verteidiger habe angegriffen und nicht der wirkliche Aggressor. Eine solche Aussage kann natürlich auch vom Angreifer selbst als Schutzbehauptung gemacht werden, er nimmt sozusagen einen Rollentausch vor. Kommt es zu einer Gerichtsverhandlung und sagt ein Zeuge derart aus, ist eine Verurteilung des Verteidigers wegen Körperverletzung sehr wahrscheinlich. Zu beachten ist dabei die problematische Tatsache, dass in einem gegen den Verteidiger geführten Strafverfahren auch der Aggressor als Zeuge auftreten kann! Mit seiner Wahrheitsliebe wird man gewiss nicht rechnen können.

Nicht selten tauchen auch weitere „Zeugen" - Freunde des Angreifers o.ä. - auf, die dessen Sachverhaltsschilderung zu Lasten des Opfers bestätigen. Der Ausgang des Verfahrens hängt dann davon ab, ob das Gericht diesen Zeugen Glauben schenkt oder nicht. Von dem Hinweis des Gerichtes, dass eine Falschaussage strafbar sei, lassen sich solche Personen oft nicht abschrecken und eine gut abgesprochene falsche Aussage kann für das Opfer verheerende Folgen haben.

Der Ausgang des Ermittlungsverfahrens ist aus Sicht des Betroffenen also fraglich und die Situation für ihn gefährlich, da er mit Strafe rechnen muss, wenn das Gericht dem Angreifer und dessen „Zeugen" Glauben schenkt und nicht ihm. Dabei ist der Verteidiger noch nicht einmal dann hundertprozentig auf der sicheren Seite, wenn er selbst einen Entlastungszeugen aufbieten kann. Es kommt immer auch auf die „Qualität" eines Zeugen und seiner Aussage an; da kann es leicht vorkommen, dass ein zugunsten des Angreifers aussagender wortgewandter „Zeuge" auf das Gericht glaubwürdiger wirkt, als die Aussage eines nervösen und einsilbigen Zeugen, der sprachlich weniger gewandt ist.

3.2 Subjektive Zeugenwahrnehmung


Ein anderes Problem ist die subjektive Wahrnehmung von unbeteiligten Zeugen. Zeugen sind nicht immer so objektiv, wie man es gerne hätte, da deren subjektive Wahrnehmung von der objektiven Sachlage abweichen kann.

Es ist eine Neigung des Menschen, tatsächlichen Beobachtungen mit eigenen Schlussfolgerungen zu verknüpfen und dies dann als objektive Wahrnehmung zu betrachten. Zum Beispiel die sogenannten „Knallzeugen": So wird eine Person genannt, die angibt einen bestimmten Vorgang gesehen zu haben, obwohl sie erst nach dem eigentlichen Geschehnis reagiert und hingesehen hat, und somit tatsächlich nicht Augenzeuge wurde.

Nehmen wir zum Beispiel einen Autounfall an einer Kreuzung. Der Knallzeuge hat den eigentlichen Autounfall nicht gesehen, er hört nur das Kollisionsgeräusch. Wegen des Unfallgeräusches dreht er sich um und sieht nur die Endposition der beteiligten Verkehrsteilnehmer. Wenn er nun noch erkennt, dass an der Kreuzung „rechts vor links" gilt, macht sich in seinem Kopf nun der Gedanke breit, dass der von rechts gekommene Wagen doch Vorfahrt hatte und dass der andere ihm die Vorfahrt genommen, also Schuld haben muss. So wird er dann auch seine Aussage abfassen und zunächst einmal (unbewusst) nicht erwähnen, dass er den Unfall selbst doch gar nicht gesehen hat. Er wird mit großer Wahrscheinlichkeit aussagen, dass der eine Wagen von rechts gekommen sei und dass ihm das andere Auto die Vorfahrt genommen habe. Das er dies tatsächlich nicht gesehen hat, muss dann oft im Rahmen einer Zeugenvernehmung vor Gericht mühsam aus ihm herausgekitzelt werden. Soweit sollte es nicht kommen müssen.

Dieser Effekt ist nicht nur bei Zeugen eines Verkehrsunfalls zu beobachten, sondern auch bei Augenzeugen einer Gewalttat. Zeugen bekommen oft nicht den Beginn einer Auseinandersetzung mit, in der die Rollen zwischen Täter und Opfer verteilt werden, sie sehen nur das Ergebnis des Kampfes: Eine Person liegt blutend am Boden, die andere steht noch auf den Beinen. Der am Boden Liegende wird dann möglicherweise als Opfer wahrgenommen und der „Sieger" als Täter und Aggressor; und dies, obwohl der „Zeuge" nicht die Auseinandersetzung beobachtet hat, sondern nur deren Ergebnis. Auch so mutiert das Opfer in der Sicht eines Zeugen mitunter zum Täter. Im Rahmen des Strafverfahrens gegen den eigentlichen Verteidiger muss der Zeuge dann dazu gebracht werden, zuzugeben, dass er eigentlich nichts zum Hergang der Tat sagen kann. Den meisten Menschen fällt es jedoch sehr schwer, von einer bei der Polizei erst mal abgegebenen Aussage derart umzuschwenken und damit einen „Fehler" zuzugeben. Dies ist gefahrerhöhend zu berücksichtigen.

3.3 Fehlendes Verständnis des Richters/Staatsanwaltes für die Kampfsituationen

Ein schwieriges Problem ist des Weiteren, dass die Notwehrlage im Nachhinein durch Staatsanwalt und Richter beurteilt werden muss. Oft verstehen diese dann nicht, dass die konkrete Verteidigung wirklich „erforderlich" im Sinne des § 32 StGB war, um die Auseinandersetzung um der eigenen Sicherheit willen schnell und für den Angegriffenen risikolos zu beenden. Das Gericht hat dann kein Verständnis für die Notwendigkeit der konkreten Verteidigung und kann unter Umständen eine Überschreitung der Notwehr annehmen und entsprechend strafen.

Exkurs: Die Erforderlichkeit im Sinne des § 32 StGB

Nach § 32 StGB muss die Verteidigungshandlung insbesondere „erforderlich" sein, den Angriff abzuwehren. Was heißt das? Um dies zu beantworten, muss man sich in die Situation des Angegriffenen versetzen und sich folgende Frage stellen: „Was muss ich als Verteidiger tun, um den Angriff sicher und für mich ohne Risiko zu stoppen?" Eine kleine Einschränkung gibt es dabei: Wenn dem Verteidiger mehrere gleich sichere Mittel zur Verfügung stehen, muss er das mildere Mittel wählen. Auf irgendwelche Risiken oder Unsicherheiten muss er sich aber nicht einlassen.

Ein Beispiel: Der Verteidiger wird mit einem Faustschlag angegriffen. Er ist sich sicher, den Angriff auf zwei Arten beenden zu können. Er könnte den Angriff blocken und mit einer Kontertechnik zum Kopf erwidern. Diese könnte zu erheblichen Verletzungen des Angreifers führen (Gehirnerschütterung, Frakturen, etc.). Er ist sich aber auch sicher, dem Angriff ausweichen und den Angreifer in einen Haltegriff nehmen zu können, um ihn so zur Aufgabe zu zwingen. Voraussichtlich würde der Haltegriff nicht zu weiteren Verletzungen des Angreifers führen. Er ist als mildere Maßnahme die Verteidigung der Wahl. Wenn sich der Verteidiger seiner Fertigkeiten aber nicht ganz sicher ist - weil er z.B. den Haltegriff nicht sicher beherrscht - oder er daran zweifelt, dass der Kampf so wirklich beendet werden kann, braucht er sich auf die daraus möglicherweise entstehenden Gefahren nicht einlassen und darf daher selbst zuschlagen; die Mittel sind nicht gleich sicher.

Der Grund dafür, dass diese Erforderlichkeit der Mittel oft falsch bewertet wird, ist der, dass in unserer „zivilisierten" Gesellschaft die meisten Menschen - inklusive Gericht und Staatsanwaltschaft - Kämpfe häufig nur aus dem Fernsehen kennen. In ihrem Kopf steckt ein stilisiertes Bild eines „Kampfes" bei dem die Beteiligten eine Vielzahl von Schlägen einstecken können, die in der Realität schon als Einzeltechnik verheerende Folgen für den Getroffenen hätten. Es besteht daher dann keine Vorstellung davon, dass schon ein einzelner Faustschlag ins Gesicht oder ein Sturz aufs Straßenpflaster zu schwerwiegenden Folgen (Frakturen, Gehirnerschütterung, Bewusstseinsverlust oder Koma, Hirnblutungen, u.s.w.) führen kann und dass ein Verteidiger daher jedem Angriff wirksam und vor allen Dingen rechtzeitig entgegentreten muss.

Noch ein Beispiel: Der Angreifer dringt mit den Worten „Ich mach die fertig!" auf den Verteidiger ein und will ihn am Kragen packen. Was kommt als nächstes? Der Verteidiger weiß es nicht! Will ihn der Angreifer in einen Würgegriff nehmen? Es drohte dann unter Umständen Bewusstseinsverlust oder Schlimmeres. Will ihn der Angreifer zu Boden stoßen? Ein Sturz auf den Hinterkopf kann lebensgefährlich sein! Das Packen am Kragen ist bereits ein notwehrfähiger Angriff auf den geantwortet werden muss. Nach der Gesetzeslage darf diese Antwort so aussehen, dass der Angriff sofort, sicher und endgültig beendet wird. Dies steht wohlgemerkt unter der Prämisse, dass dem Verteidiger keine absolut gleichwertige mildere Verteidigungsmaßnahme zur Verfügung steht. Wie dies konkret aussieht, hängt allerdings immer vom Einzelfall ab; von der Art des Angriffs, von der Statur des Angreifers und des Verteidigers, von deren Fähigkeiten, dem Ort des Kampfes selbst u.s.w. Die in Betracht kommenden Möglichkeiten sind zahllos.

Nehmen wir nun an, dass der Verteidiger den Angriff durch einen Fauststoß zum Gesicht stoppen konnte, bevor der Angreifer ihn ergriffen hat und dass der Angreifer dabei eine schwere Kieferfraktur erlitten hat. Es wäre nun nicht weiter erstaunlich, wenn von Seiten der Staatsanwaltschaft und des Gerichtes deshalb die Ansicht vertreten wird, man hätte doch ein „milderes Mittel" wählen können - so wie es das Gesetz vorsehe -, etwa einen Schlag in den Bauch oder man hätte versuchen müssen, sich dem Zugriff zu entwinden. Diese Möglichkeiten sind für den Verteidiger aber nicht sicher genug: Der Schlag in den Bauch kann durch dicke Kleidung gedämpft werden oder der Angreifer hat gut trainierte Bauchmuskeln und kann den Schlag neutralisieren. Der Versuch sich einem Zugriff zu „entwinden" ist ebenfalls gefährlich, denn wenn der Angreifer mit seiner ersten Maßnahme scheitert, wird er mit härteren Aktionen nachsetzen. Dies muss der Staatsanwaltschaft und dem Gericht unmissverständlich nahegebracht werden.

Im Übrigen gilt der Rechtsgrundsatz „Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen!". Dies bedeutet, dass sich ein Verteidiger einem Angriff stellen darf; er braucht sich nicht auf die Möglichkeit einer Flucht oder eines Rückzuges verweisen lassen.

Außerdem wird oft verkannt, dass es auf der Straße keinen „ehrenhaften" Kampf gibt, ein Konflikt wird in der Regel nur dann beendet sein, wenn der Angreifer definitiv geflüchtet oder kampfunfähig ist. Ein Angriff ist nicht schon dann beendet, wenn der Aggressor nach einem Verteidigungsschlag zu Boden geht. Er kann wieder aufstehen und weitermachen. Wenn der Angreifer jedoch bereits am Boden liegt und man dennoch seine „Verteidigung" fortsetzt, indem man auf ihn eintritt, ist es nicht weit bis zur strafbaren Überschreitung der Notwehr. Dies ist natürlich ein schmaler Grat. Definitiv ist eine Notwehrhandlung zu beenden, wenn der Gegner kampfunfähig ist.

4 Folgen für das Verhalten in einer Notwehrsituation

Ausgehend von den geschilderten Umständen müssen Verhaltensregeln entwickelt werden, diesen Problemen möglichst wirksam zu begegnen. Die nachfolgend angesprochenen Punkte möchte ich als Anregungen verstanden wissen, die keinesfalls erschöpfend und der Weisheit letzter Schluss sind.

4.1 Verhalten vor der Eskalation

Ein Angriff wird meist nicht spontan und aus der Sicht des Aggressors auch nicht ohne mehr oder weniger tragfähigem Grund durchgeführt; häufig reicht schon ein „falscher" Blick. Die meisten Tätlichkeiten haben ein Vorspiel, in dem der Aggressor auslotet, ob er ein geeignetes Opfer gefunden hat; er will ja selbst aus dem Konflikt siegreich hervorgehen. Es gibt einen Teilbereich der Kriminologie, die Lehre vom Opferverhalten (Viktimologie), deren Kernaussage sich so umschreiben lässt: „Halten Sie sich gerade und den Blick erhoben! Wer wie ein Opfer aussieht, wird auch eines!" Ein Täter greift in der Regel nur dort an, wo er keine für ihn selbst gefährliche Gegenwehr erwartet.

Dieses Ausloten beginnt schon mit optischen Eindrücken: So sind Kinder und ältere Menschen bereits augenscheinlich physisch schwach wegen ihres Alters. Häufig werden Frauen wegen ihres Geschlechts als schwächer wahrgenommen. Auch Menschen mit sichtbaren körperlichen oder leicht feststellbaren geistigen Einschränkungen und Fähigkeiten sind deutlich anfälliger, Opfer zu werden.

Die „Opferwahl" kann sich damit fortsetzen, dass das Opfer dann beispielsweise angerempelt wird. Wie verhält es sich? Lässt es die Rempelei über sich ergehen, geht der Täter zur nächsten Stufe über. Das Opfer wird nun verbal provoziert. Erfolgt auch hier keine aus Sicht des Aggressors nennenswerte Reaktion, fühlt er sich zunehmend sicher, es beginnen die Tätlichkeiten. Wenn der Täter meint, ein Opfer gefunden zu haben, bringt er sich so auch selbst in die richtige Stimmung für seine Tat und putscht sich an seiner vermeintlichen Macht und dem einhergehenden Adrenalinausstoß regelrecht auf und fühlt sich so auch selbst zunehmend sicherer.

Jedem potentiellen Täter muss also frühzeitig gezeigt werden, dass er sich kein leichtes Opfer ausgesucht hat, sondern einen potentiell ernst zu nehmenden Gegner, der ihm auch gefährlich werden kann. Die Möglichkeiten hierzu sind vielfältig und würden den hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen.

4.2 Klärung der Rollenverteilung

Bereits frühzeitig im Konflikt muss für eventuelle Zeugen (z.B. in der Disko oder Kneipe) die Rollenverteilung zwischen gut und böse geklärt werden. Alle Umstehenden müssen erkennen, dass man selbst der Gute ist, der bedroht wird und der sich zu verteidigen hat.

Dies kann beispielsweise geschehen, indem man eine abwehrend und defensiv erscheinende Körperhaltung einnimmt. Offene Hände in abwehrender Haltung erscheinen defensiv, dennoch kann eine vernünftige Deckungshaltung eingenommen werden. Geballte Fäuste wirken auf Zeugen hingegen nicht defensiv. Sinnvoll kann es auch sein, durch lautes Rufen oder Schreien Aufmerksamkeit zu erregen. „Da will einer Ärger machen, ruft die Polizei!" oder „Lass mich in Ruhe!". Hierdurch werden umstehende Personen auf die Situation aufmerksam und können leicht erkennen, wer hier wen bedroht; die Rollenverteilung wird erkennbar. Wenn der Aggressor nun angreift, ist er der „Böse". Hieran werden sich die Zeugen erinnern. Zugleich wird durch das laute Rufen auch die Aufmerksamkeit der Zeugen so frühzeitig geweckt, so dass sie sich dem Geschehen zuwenden und es wirklich beobachten können. So wird verhindert, dass die Zeugen als „Knallzeugen" (s.o.) später eine objektiv falsche Aussage machen. Im Idealfall wird so auch Hilfe durch die Zeugen mobilisiert, womit traurigerweise heute nur selten gerechnet werden kann.

4.3 Verhalten nach abgewehrtem Angriff

Was ist zu tun, wenn sich der Verteidiger erfolgreich verteidigen konnte und dabei den Angreifer möglicherweise kampfunfähig machte? Soll man die Polizei rufen? Soll man sich vom Ort des Geschehens entfernen? Muss für medizinische Versorgung des Angreifers gesorgt werden oder kann man ihn seinem Schicksal überlassen? Meiner Auffassung nach sollte man sich in jedem Fall sofort vom „Tatort" entfernen. Dies dient im Hinblick auf zwei Aspekte der Eigensicherung.

Auf der einen Seite besteht immer die Möglichkeit, dass Bekannte des Angreifers auftauchen und dies zu weiteren Tätlichkeiten führt. Denkbar ist auch, dass sich der Angreifer aufrappelt und zu einem neuen Angriff ansetzt. Er könnte sich auch scheinbar zurückziehen, jedoch kurz darauf mit einer Waffe oder Verstärkung zurückkehren. In jedem Fall geht man weiteren Konflikten aus dem Weg. Als Beispiel ist eine Auseinandersetzung in einer Disko zu nennen, nach der eine beteiligte Partei vom Sicherheitsdienst rausgeschmissen wird. Oft wartet diese dann am Ausgang, bis der andere Beteiligte auftaucht; und der Konflikt geht weiter.

Wenn man sich schnell vom Tatort entfernt, dient dies auf der anderen Seite auch dazu, sich vor einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu schützen. Denn gegen wen soll ermittelt werden, wenn man sich unerkannt entfernt hat? Hier muss betont werden, dass dies durchaus rechtens ist, denn niemand ist verpflichtet, in einer solchen Situation die Polizei zu rufen, am Tatort zu verweilen und seine Beteiligung an der Auseinandersetzung zu offenbaren.

Genauso nachdrücklich ist jedoch auch herauszustellen, dass es bei Strafe verboten ist, einen verletzten und kampfunfähigen Angreifer hilflos zurückzulassen, wenn eine Hilfeleistung zumutbar ist (§ 323 c StGB - Unterlassene Hilfeleistung)! Dies soll an anderer Stelle vertieft werden. Festzuhalten ist, dass der Rettungsdienst informiert werden muss, wenn dies erforderlich ist; entweder, indem Zeugen gebeten werden, den Notarzt zu rufen und diese das auch tun oder indem man dies von einer Telefonzelle oder einem anderen Anschluss (Handy des Täters?) aus selbst erledigt. Das eigene Handy sollte nicht benutzt werden, denn auch trotz unterdrückter Rufnummeranzeige kann die Polizei über den Mobilfunkprovider den Inhaber ermitteln.

4.4 Stellung durch die Polizei


Wenn man von der Polizei gestellt oder als Beteiligter ermittelt wird sind die Regeln eindeutig: Kooperationsbereitschaft signalisieren, Personalien angeben und auf gar keinen Fall irgendwelche Angaben zur Sache machen. Von den Polizisten darf man sich keinesfalls in ein Gespräch verwickeln lassen, bei dem einem dann die eine oder andere Aussage entlockt wird. Schweigen kann in einem Strafverfahren niemals zu Lasten des Beschuldigten gewertet werden, dies ist ein fundamentaler Grundsatz unserer Rechtsordnung. Nur teilweises Schweigen darf allerdings gegen den Beschuldigten verwendet werden. Daher sollte lieber gar nichts ausgesagt werden. Sobald man von der Polizei einen Vernehmungsbogen als Beschuldigter erhält, sollte durch einen Rechtsanwalt Akteneinsicht beantragt werden. Nur so lässt sich feststellen, was für Informationen und Aussagen echter oder vermeintlicher Zeugen der Polizei bereits bekannt sind. Darauf muss die Verteidigung dann eingehen. Niemals dürfen ohne Kenntnis der Aktenlage Angaben zur Sache gemacht werden!

5 Fazit

Auch nach einer erfolgreich gemeisterten Notwehrsituation ist der Verteidiger nicht aus der „Schusslinie". Es besteht immer noch die Gefahr, dass gegen ihn ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wird, dessen Ergebnis sehr unsicher sein kann. Es müssen daher alle Möglichkeiten genutzt werden, die Weichen in der oben geschilderten Art und Weise frühzeitig richtig zu stellen.

Abschließend hoffe ich, dass keiner meiner Leser jemals in die Notwendigkeit gerät sich, verteidigen zu müssen. Für Fragen, Ergänzungen, Beispielsfälle und Anregungen habe ich immer ein offenes Ohr.

Über den Autor:

Mark Pilz (Jahrgang 1970) trainiert Karate seit 1988 bei Hideo Ochi und beim PSV Bottrop. Er trägt den 3. Dan. Beruflich ist er als selbständiger Rechtsanwalt in Bottrop tätig.

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