Auffahrunfall: Wer auffährt, ist nicht immer schuld

15.02.2021, Redaktion Anwalt-Suchservice
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Auffahrunfall,Mann,Ärger Die Klärung der Schuldfrage ist nach einem Unfall nicht immer einfach. © - freepik

Allgemein bekannt ist die Faustregel bei Auffahrunfällen: Wer auffährt, ist immer schuld. Oft ist tatsächlich ein zu geringer Sicherheitsabstand die Unfallursache. Allerdings ist die Faustregel nicht immer anwendbar.

Tatsächlich gibt es durchaus auch Fälle, in denen der Auffahrende nicht schuld ist. Oft kommt es auch zu einer Haftungsaufteilung. Besonders kompliziert wird es bei Auffahrunfällen, die beim Spurwechsel stattfinden, und natürlich bei Kettenauffahrunfällen. Für alle diese Fälle haben die Gerichte jedoch bereits Lösungen entwickelt.

Fall: LKW gegen Taxi


Das Landgericht Hannover beschäftigte sich mit einem Unfall, dessen eigentliche Ursache ein Streit zwischen einem Taxifahrer und dessen Fahrgast war. Dabei ging es um die richtige Fahrtroute zum Ziel. Auch gab es sprachliche Verständigungsschwierigkeiten (der Fahrgast war Brite). Am Ende legte der erboste Taxifahrer mitten auf der Autobahn eine Vollbremsung hin und blieb zwei Minuten lang stehen. Wenig überraschend fuhr ein LKW auf das Taxi auf und der Fahrgast erlitt schwere Verletzungen.
Die Haftpflichtversicherung des Taxis bezahlte eine sechsstellige Summe, versuchte aber anschließend, den LKW-Fahrer bzw. dessen Versicherung in Regress zu nehmen. Ihrer Meinung nach war dieser zu 40 Prozent mitschuldig an dem Unfall. Immerhin sei er 83 km/h schnell gefahren statt der erlaubten 80 km/h und habe zu spät gebremst. 40 Prozent machten hier immer noch über 160.000 Euro aus.

Warum ist meist der Auffahrende schuld?


Dabei geht es um den sogenannten "Beweis des ersten Anscheins". Bei einem Auffahrunfall spricht dieser aus Sicht der Gerichte meist dafür, dass der Auffahrende die Schuld trägt. Regelmäßig kommt es zu Auffahrunfällen, weil der Auffahrende zu schnell war und/oder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat. Natürlich wissen auch die Gerichte, dass dies durchaus nicht immer die Unfallursache sein muss. Deshalb kann man den Anscheinsbeweis vor Gericht auch entkräften, indem man beweist, dass dieses Mal ein nicht typischer Geschehensablauf stattgefunden hat. Somit trägt die Schuld am Unfall letzten Endes nicht automatisch der Auffahrende, sondern derjenige, dessen schuldhafte Verletzung der Verkehrsregeln den Unfall verursacht hat.

Urteil: Taxi-Versicherung zahlt allein


Das Landgericht Hannover wies die Regressforderung der Haftpflichtversicherung ab und entschied, dass die Versicherung des Taxis allein für die Unfallfolgen aufzukommen habe. Die Geschwindigkeitsübertretung des LKW-Fahrers sei nur geringfügig und auch seine späte Reaktion auf das auf der Autobahn stehende Taxi ändere nichts daran, dass der Taxifahrer die ganz überwiegende Schuld trage. Dieser habe durch das Anhalten auf der rechten Fahrspur der Autobahn äußerst grob seine Pflichten verletzt und so den Unfall und auch den Schaden verursacht. Es komme dazu, dass das Anhalten aus einem nichtigen Grund erfolgt sei, nämlich nur wegen eines Streits mit dem Fahrgast. Der Unfall sei für den Taxifahrer leicht zu vermeiden gewesen: Dieser hätte einfach nicht auf der rechten Fahrspur, sondern auf dem vorhandenen Pannenstreifen anhalten müssen (Urteil vom 15.2.2016, Az. 1 O 132/15).

Was gilt beim Auffahrunfall in der Ampelschlange?


Auch in anderen Fällen wenden Gerichte die bekannte Faustregel nicht an. Dies erkennt man zum Beispiel am Fall einer Autofahrerin, die auf der Linksabbiegespur in einer Ampelschlange auf ein Auto aufgefahren war, das erst losfuhr und dann plötzlich bremste. Laut Gericht war ein geringer Sicherheitsabstand in einer Ampelschlange zu entschuldigen – schließlich müssten im Stadtverkehr die Grünphasen genutzt werden. Das Gericht sah den bremsenden Fahrer im ersten Auto als absolut allein schuldig an (Amtsgericht München, 27.7.2001, Az. 345 C 10019/01).

Was gilt bei Spurwechseln auf der Autobahn?


Häufig wird auch bei Auffahrunfällen auf der Autobahn eine Ausnahme von der Faustregel gemacht, wenn es vor dem Unfall einen Spurwechsel gegeben hat. So hat das Oberlandesgericht München entschieden, dass bei unklarer Beweislage zum Unfallgeschehen nicht einfach von der Schuld des Auffahrenden ausgegangen werden darf. Stattdessen muss eine genaue Beweisaufnahme stattfinden, damit der Schaden dann anteilig aufgeteilt werden kann (OLG München, Urteil vom 4.9.2009, Az. 10 U 3291/09).

Strenger sehen dies andere Gerichte. Ihrer Meinung nach ist der Anscheinsbeweis nicht erschüttert, nur weil vor dem Unfall ein Fahrspurwechsel unter unklaren Umständen stattgefunden hat. Ihrer Ansicht nach muss zusätzlich eindeutig feststehen, dass der Spurwechsel in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall erfolgt ist (OLG Saarbrücken, Urteil vom 19.5.2009, Az. 4 U 347/08). Das Oberlandesgericht Zweibrücken fordert vom Auffahrenden sogar einen Beweis, dass der Spurwechsel des vorderen Fahrzeuges sich in einem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Auffahrunfall ereignet hat (Urteil vom 30.07.2008, Az. 1 U 19/08). Im entsprechenden Fall war eine VW-Fahrerin einem Porsche aufgefahren, der sich auf der Autobahn aufgrund einer Baustelle vor ihr eingefädelt hatte. Der Beweis gelang nicht - die Frau musste 75 Prozent des Schadens tragen.

Was gilt bei Spurwechseln im Stadtverkehr?


In München waren ein PKW und ein kroatischer Reisebus kollidiert. Der PKW war auf der linken Spur gefahren und dann wegen einer Fahrbahnverengung auf die rechte Spur gewechselt. Dort geriet er vor den Bus, der ihm auffuhr. Der Halter des PKW forderte von der Versicherung des Reisebusses Schadensersatz. Das Amtsgericht München wies die Klage ab: Zwar spreche bei Auffahrunfällen der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden. Erschüttert werde dies jedoch, wenn der Auffahrende einen atypischen Verlauf darlegen und beweisen könne. Dabei sei der Nachweis nötig, dass ein Fahrzeug vorausgefahren sei, welches erst unmittelbar vor dem Unfall die Fahrspur gewechselt habe, sodass für den Nachfahrenden ein Ausweichen unmöglich oder erheblich erschwert gewesen sei.

Nach § 7 Abs. 5 StVO erfordere jeder Fahrstreifenwechsel die Einhaltung äußerster Sorgfalt, damit eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen werden könne. Komme es zu einer Kollision zweier Fahrzeuge in unmittelbarem zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel des Vorausfahrenden, spreche der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass dieser den Unfall verursacht und verschuldet habe. Deshalb hafte der Vorausfahrende bei einem sorgfaltswidrigen Fahrspurwechsel wegen der gemäß § 7 Abs. 5 StVO zu beachtenden größtmöglichen Sorgfalt in der Regel allein für den Unfallschaden (Amtsgericht München, Az. 331 C 28375/12).

Vollbremsung contra Schulterblick


Zu einem Unfall kann es natürlich auch kommen, weil der “Vordermann” aus irgendeinem Grund eine Vollbremsung hinlegt. Das Amtsgericht Wuppertal befasste sich mit einem solchen Fall: Ein Autofahrer hatte an einer Kreuzung in der Stadt links abbiegen wollen und zu spät gemerkt, dass er dort gar nicht abbiegen durfte. Er bremste stark, weshalb das Auto hinter ihm auffuhr. Dessen Fahrer hatte sich gerade in diesem Moment auf einen Spurwechsel nach rechts vorbereitet und sich kurz mit einem "Schulterblick" nach rechts orientiert, ob die rechte Spur frei war. Die Entscheidung des Gerichts: Der Fahrer des hinteren Autos musste mit einem Anteil von ¾ haften, weil er durch seine Unaufmerksamkeit und sein überhöhtes Tempo den Unfall überwiegend verschuldet habe. ¼ der Haftung müsse der vordere Fahrer tragen, weil er regelwidrig mitten im fließenden Verkehr angehalten habe (Urteil vom 27.4.2010, Az. 33 C 25/09).

Was gilt bei Ketten-Auffahrunfällen?


Wenn drei Fahrzeuge aufeinander auffahren, ist die Haftungsverteilung besonders schwierig. Zu einem derartigen Fall entschied zum Beispiel das Landgericht Hanau. Auf einer Autobahn hatte ein Autofahrer den Sicherheitsabstand nicht eingehalten und war auf das vorausfahrende Fahrzeug aufgefahren. Dann fuhr ein dritter PKW von hinten auf. Anschließend prozessierten die Fahrer der beiden hinteren Fahrzeuge um den Schaden. Der Fahrer des mittleren PKW konnte nicht nachweisen, dass ihm ein rechtzeitiges Abbremsen nicht mehr möglich gewesen war. Deshalb musste er für den zweiten Auffahrunfall 25 Prozent des Schadens übernehmen (Urteil vom 16.12.2005, Az. 2 S 236/05).

Mit einem Vierfach-Auffahrunfall beschäftigte sich das Oberlandesgericht Hamm. Der Halter des vorletzten Fahrzeugs in der Reihe hatte die Fahrerin verklagt, die als letzte aufgefahren war. Es war nicht mehr zu klären, ob nun das Auto des Klägers selbst auf das Fahrzeug davor aufgefahren oder durch das Fahrzeug der Beklagten geschoben worden war. Dem Gericht zufolge kann der Anscheinsbeweis, nach dem der Auffahrende schuld ist, bei Ketten-Auffahrunfällen generell nicht angewendet werden. Hier liege immer ein atypischer Geschehensablauf vor. Das Gericht teilte den Schaden zwischen den beiden Prozessparteien hälftig auf (Oberlandesgericht Hamm, Az. 6 U 101/13).

Praxistipp


Die Faustregel “wer auffährt, ist schuld” wird oft nicht angewendet, wenn es zu Auffahrunfällen kommt durch Spurwechsel, beim Auffahren auf die Autobahn, durch Vollbremsungen des vorderen Fahrzeuges oder gar zu Ketten-Karambolagen. Allerdings schauen sich die Gerichte jeden Einzelfall genau an. Nach einem Unfall kann Ihnen ein auf das Verkehrsrecht spezialisierter Rechtsanwalt helfen, die Rechtslage richtig einzuschätzen.

(Bu)


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 Stephan Buch
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