Verfassungsmäßigkeit der Trennung eines Kindes von seinen Eltern

Autor: RiOLG Ansgar Fischer, Oldenburg
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 08/2014
Das Familiengericht hat bei der Entscheidung nach §§ 1666, 1666a BGB zu ermitteln, ob die tatsächlichen Voraussetzungen für eine Entziehung des Sorgerechts vorliegen. Es muss sein Verfahren so gestalten, dass es selbst möglichst zuverlässig die Grundlage einer am Kindeswohl orientierten Entscheidung erkennen kann. Die Frage, ob der Gefahr für die Kinder nicht auf andere Weise als durch Trennung von den Eltern, auch nicht durch öffentliche Hilfen, begegnet werden kann (§ 1666a Abs. 1 Satz 1 BGB), betrifft eine verfassungsrechtlich zentrale Tatbestandsvoraussetzung und muss darum vom Familiengericht von Amts wegen aufgeklärt werden. Ob öffentliche Hilfen erfolgversprechend sind, muss das Familiengericht letztlich in eigener Verantwortung beurteilen, wozu es sich eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage verschaffen und diese in seiner Entscheidung auch darlegen muss.

BVerfG, Beschl. v. 24.3.2014 - 1 BvR 160/14

Vorinstanz: OLG Zweibrücken, Entsch. v. 8.11.2013 - 2 UF 106/13

GG Art. 6 Abs. 2 S. 1, Abs. 3; BGB §§ 1666 Abs. 1, 1666a Abs. 1 S. 1

Das Problem:

Die beschwerdeführende alleinerziehende Mutter mehrerer Kinder erhielt seit 2009 Hilfe zur Erziehung nach dem SGB VIII in Form sozialpädagogischer Familienhilfe sowie eine ambulante Hilfe im Haushalt. Weil sich aus Sicht des Jugendamts keine nachhaltige Verbesserung der ohne Hilfe ständig überforderten, psychisch stark belasteten und nicht voll erziehungsfähigen Mutter einstellte, beendete es die Hilfen und strebte stattdessen die Herausnahme der Kinder aus der Obhut der Mutter gem. § 1666 BGB an. Das AG entzog der Mutter nach Einholung eines Sachverständigengutachtens das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihre noch im Haushalt verbliebenen zwei jüngsten Kinder und übertrug dies auf das Jugendamt, weil das Wohl der Kinder in der Obhut der Mutter latent gefährdet sei. Das OLG hat diese – zunächst vom AG ausgesetzte – Entscheidung bestätigt, worauf beide Kinder im November 2013 in einer Pflegefamilie untergebracht worden sind.

Die Entscheidung des Gerichts:

Das BVerfG gibt der Verfassungsbeschwerde der Mutter statt. Der Senat stellt zunächst heraus, dass die Trennung eines Kindes von seinen Eltern nach § 1666 BGB nur unter sehr engen Voraussetzungen berechtigt sei. Um eine Trennung des Kindes von den Eltern zu rechtfertigen, müsse das elterliche Fehlverhalten ein solches Ausmaß erreichen, dass das Kind bei einem Verbleiben in der Familie in seinem körperlichen, geistigen oder seelischen Wohl nachhaltig gefährdet sei. Dies setze voraus, dass bereits ein Schaden des Kindes eingetreten sei oder gegenwärtig eine Gefahr in einem solchen Maße bestehe, dass sich bei ihrer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lasse. Die Entscheidungen der Familiengerichte unterliegen im Hinblick auf das Gewicht des Grundrechtseingriffs im Verfahren vor dem BVerfG ausnahmsweise auch einer Prüfung auf Fehler bei der Auslegung des einfachen Rechts und bei der Feststellung und Würdigung des Sachverhalts. Vor diesem Hintergrund seien vorliegend die Entscheidungen schon deshalb nicht zu halten, weil es an ausreichenden Feststellungen zur erforderlichen gegenwärtigen Gefahr einer Kindeswohlbeeinträchtigung fehle. Der Sachverständige habe in seinem Gutachten lediglich eine mittel- bzw. langfristige Gefährdung festgestellt. Auch das AG und das OLG seien nur von einer latenten, nicht aber konkreten Gefahr der Vernachlässigung ausgegangen.

Der Senat hat zudem festgestellt, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt worden sei. Zum einen sei versäumt worden, die mit der Trennung verbundenen Belastungen der Kinder in das richtige Verhältnis zu dem mit der Trennung verbundenen Gewinn für das Kindeswohl zu setzen. Zum anderen sei die Fremdunterbringung der Kinder auch nicht zur Abwendung der bestehenden Gefahren erforderlich. Nach den Berichten der bislang in der Familie tätigen Helfer habe sich die Situation bei der Mutter mit Unterstützung der sozialpädagogischen Familienhilfe bis Ende 2012 stetig verbessert, ohne dass es zu konkreten Kindeswohlbeeinträchtigungen gekommen sei. Schon deshalb hätten Familiengericht und OLG nicht ungeprüft die Ansicht des Jugendamts übernehmen dürfen, dass die Fortführung der Hilfemaßnahmen nicht geeignet sei, die bestehende Gefahrenlage zu beseitigen. Erst recht sei es nicht richtig, dass sich die Gerichte bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 1666a BGB aus Rechtsgründen an die Beurteilung des Jugendamts gebunden gesehen hätten. Zwar obliege die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Verweigerung von Hilfen nach dem SGB VIII den VG. Die familiengerichtliche Entscheidung nach § 1666 BGB sei aber nicht als Kontrolle behördlicher Entscheidungen zu verstehen, sondern erfordere eine eigene und originäre Sachentscheidung durch das Gericht. Die Gerichte hätten die Inanspruchnahme öffentlicher Hilfe auch nicht deshalb außer Betracht lassen dürfen, weil sie im Hinblick auf die Verweigerungshaltung des Jugendamts aktuell nicht realisierbar gewesen sei. Denn der Mutter hätte das Recht auf Durchsetzung der Maßnahmen vor den VG zugestanden, das sie aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes auch nicht durch den Entzug des Elternrechts auf Stellung von Anträgen nach dem SGB verloren habe.


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