Unfall beim Rückwärtsfahren: Wer ist schuld, wer haftet?

20.11.2020, Redaktion Anwalt-Suchservice
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Auto,Beule,Hand Bei Rückwärts-Unfällen bereitet die Schuldfrage oft Probleme. © - freepik

Bei Auffahrunfällen gilt vor Gericht die altbekannte Vermutung, dass der Fahrer des hinteren Fahrzeugs den Unfall verursacht hat. Wie sieht es jedoch aus, wenn man beim Zurücksetzen ein anderes Auto beschädigt?

Bei Auffahrunfällen spricht der sogenannte "Beweis des ersten Anscheins" gegen den Fahrer des hinteren Fahrzeugs. In der Regel ist er es nämlich, der den Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat oder der aus Unachtsamkeit oder wegen zu hohem Tempo auf das vordere Fahrzeug aufgefahren ist. Diese Regel stimmt jedoch nicht immer. Schließlich sind auch Situationen denkbar, in denen der vordere Fahrer an dem Unfall schuld ist – beispielsweise durch plötzliches grundloses Bremsen. Noch weniger eindeutig ist die Lage bei Unfällen, die beim Rückwärtsfahren passieren. Auch hier gibt es eine Faustregel "der Rückwärtsfahrende hat Schuld", die jedoch oft nicht zur Anwendung kommt.

Unfall auf dem Parkplatz: Wer ist schuld?


Wer haftet, wenn auf einem Parkplatz Autos rückwärts rangieren und dabei mit anderen Fahrzeugen zusammenstoßen? Lange Zeit wendeten viele Gerichte hier § 9 Abs. 5 der Straßenverkehrsordnung (StVO) an: Danach darf man nur rückwärts fahren, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Daraus kann man einen "Anscheinsbeweis" ableiten, der dafür spricht, dass der Rückwärtsfahrende schuld ist.
Waren beide rückwärts gefahren, wurde die Haftung eben mit der Quote 50/50 aufgeteilt. Abweichungen konnte es geben, wenn einer bereits vor dem Unfall zum Stehen kam, obwohl manche Gerichte nicht einmal dann eine Ausnahme machen wollten (LG Kleve, Urteil vom 11.11.2009, Az. 5 S 88/09).

Was sagt der Bundesgerichtshof zum Rückwärtsunfall auf dem Parkplatz?


Der Bundesgerichtshof hat diese Rechtsprechung jedoch in mehreren Urteilen korrigiert. So ist § 9 StVO gar nicht so ohne weiteres auf Parkplätzen anwendbar. Zwar gilt auf allen öffentlich zugänglichen Parkplätzen generell die Straßenverkehrsordnung (auch ohne Schild "hier gilt die StVO"). Jedoch sind viele ihrer Regeln nur auf Straßen anwendbar und nicht auf Parkplätzen, die dem ruhenden Verkehr dienen. Dies gilt zum Beispiel für "rechts vor links", aber auch für § 9 Abs. 5 StVO. Ausnahme sind Parkplätze, die wie eine Straße gestaltet sind, mit breiten Fahrbahnen und Kreuzungen und entsprechenden Linien.

Immer gilt auf Parkplätzen nur § 1 der StVO: das Rücksichtnahmegebot. Es besagt: Grundsätzlich muss sich jeder Autofahrer so verhalten, dass andere nicht geschädigt werden. Über dieses Gebot kann § 9 Abs. 5 allerdings als "Wertung" herangezogen werden. Das bedeutet: Wer auf einem Parkplatz rückwärts fährt, muss sich so verhalten, dass er sein Auto notfalls sofort anhalten kann. Kollidiert er mit einem anderen Fahrzeug, können zugunsten des Unfallgegners die Grundsätze des Anscheinsbeweises zur Anwendung kommen. Das heißt: Von der Schuld des Rückwärtsfahrenden wird ausgegangen und dieser darf gerne versuchen, das Gegenteil zu beweisen.

Steht fest, dass sich die Kollision beim Rückwärtsfahren ereignete, dass der Rückwärtsfahrende bei der Kollision selbst also noch nicht stand, spricht dem BGH zufolge auch bei Parkplatzunfällen ein allgemeiner Erfahrungssatz dafür, dass der Rückwärtsfahrer seiner Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen ist und den Unfall zumindest mitverursacht hat (Urteil vom 26.1.2016, Az. VI ZR 179/15).
Umkehrschluss: Wer bei der Kollision schon steht, hat gute Karten.

Beide fahren rückwärts: Was sagt der BGH?


Der BGH hatte sich 2016 aber auch noch mit einem Fall zu befassen, bei dem zwei Autos auf einem Baumarkt-Parkplatz beim jeweiligen Rückwärts-Ausparken miteinander kollidiert waren. Offenbar war die Klägerin kurz vor der Kollision noch zum Stehen gekommen.
Hier ging der BGH davon aus, dass nur zulasten des Beklagten ein Anscheinsbeweis zum Tragen kam. Denn: Könne nicht ausgeschlossen werden, dass ein Auto bei der Kollision schon stand, handle es sich nicht mehr um den typischen Geschehensablauf und dann entfalle der Anscheinsbeweis. Dies komme hier der Klägerin zugute.
Im Klartext: Da die Klägerin hier beim Knall schon stand, der Beklagte aber noch fuhr, haftet der Beklagte. Zumindest überwiegend, denn auch die reine sogenannte Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Klägerin ist unabhängig von ihrem Verschulden zu berücksichtigen (Urteil vom 11.10.2016, Az. VI ZR 66/16).

Rückwärts aus der Parklücke an der Straße


Fährt ein Auto an einer öffentlichen Straße rückwärts aus einer Parklücke am Straßenrand und kollidiert mit einem Fahrzeug, dass sich normal vorwärts auf der Straße bewegt, ist grundsätzlich der Ausparkende schuld. Denn: Auch hier spricht wieder der "Anscheinsbeweis" dafür, dass er beim Rückwärtsfahren nicht vorsichtig genug war. Maßgebliche Verkehrsregel ist hier § 10 StVO.
Eine Ausnahme gibt es aber: Steht fest, dass der Ausparkende schon so lange auf der Fahrbahn stand, dass sich der fließende Verkehr auf ihn einstellen konnte, haftet der aufgefahrene Vorwärtsfahrer. Dies hat das Oberlandesgericht Saarbrücken entschieden (Urteil vom 13.8.2020, Az. 4 U 6/20).

Ausparken in der Einbahnstraße und auf dem Autobahn-Parkplatz


Wer an einer Einbahnstraße oder auf einem Autobahn-Parkplatz rückwärts ausparkt, muss sich trotz Einbahnverkehr nach beiden Richtungen absichern, ob der Weg frei ist. Dies hat das Oberlandesgericht Oldenburg betont. Hier war ein PKW auf einem Autobahnparkplatz mit dem Fahrzeug einer Autobahnmeisterei kollidiert, das bei Einbahnstraßenregelung in falscher Fahrtrichtung unterwegs war. Dieses Fahrzeug war dazu aber berechtigt. Das Gericht betonte: Autofahrer müssen sich darüber im Klaren sein, dass immer Fahrzeuge mit Sonderrechten auch in verkehrter Richtung in einer Einbahnstraße unterwegs sein können - oder auch Fußgänger. Deshalb müssen sie sich in beide Richtungen absichern (Hinweisverfügung vom 23.4.2018, Az. 4 U 11/18).

Ausparken an der Busspur


Wer aus einer Parklücke neben einer Busspur rückwärts ausparkt und dabei mit einem PKW kollidiert, der zu Unrecht auf der Busspur fährt, haftet allein. Dies hat das Kammergericht Berlin entschieden. Zwar hat der Unfallgegner sich nicht an die Verkehrsregeln gehalten. Aber: Das Verbot des Befahrens der Busspur dient nicht der Unfallverhütung. Und: Es hätte ja auch ein Bus kommen können. Die Pflicht, aufzupassen, liegt hier ganz klar beim Ausparkenden (Urteil vom 14.12.2017, Az. 22 U 31/16).

Schuldfrage nicht zu klären?


Ein besonders verzwickter Schadensfall kam vor dem Kammergericht Berlin zur Verhandlung. Ein Auto mit Anhänger hatte auf einer einspurigen Straße links abbiegen wollen. Der dahinter fahrende PKW hatte offenbar versucht, in diesem Moment rechts zu überholen. Der Fahrer des vorderen Fahrzeugs behauptete, dass ihm sein "Hintermann" aufgefahren wäre. Dieser bestand jedoch darauf, dass das Gespann vor dem Abbiegen angehalten habe und dabei zurückgerollt sei. Auch ein Sachverständiger konnte die Schuldfrage nicht klären. Das Gericht stellte fest: Grundsätzlich habe der Linksabbieger mit Anhänger nicht damit rechnen müssen, dass ihn jemand noch vor Ende des Abbiegevorgangs rechts überhole. Aber: Sei weder die eine, noch die andere Version auszuschließen, komme eine hälftige Schadensteilung in Betracht (KG Berlin, Urteil vom 6.12.2004, Az. 12 U 28/04).

Maximale Destruktion: Rückwärts mit dem Radlader


Mit einem Baustellenunfall abseits des Geltungsbereichs der StVO befasste sich das OLG Karlsruhe. Ein großer Radlader hatte Abrissschutt in ein Sortiersieb geschüttet. Währenddessen rangierte dicht hinter ihm rückwärts ein LKW vorbei. Der Radlader setzte plötzlich zurück. Bei der Kollision der beiden Rückwärtsfahrer entstanden nur am Radlader bereits rund 40.000 Euro Schaden. Dessen Fahrer hatte bis zur Kollision nach vorn geschaut.

Das Gericht erklärte: Die Pflicht, in die Richtung zu schauen, in die man fährt oder sich bewegt, sei ein elementares Gebot sozialen Miteinanders. Dies gelte nicht nur im Straßenverkehr, sondern auch auf Baustellen. Die beim Rückwärtsfahren mit einem großen Radlader entstehende Gefahr sei so erheblich, dass ihr nur mit einer hinreichenden Beobachtung des rückwärtigen Raumes wirksam begegnet werden könne. Trotzdem ließ das Gericht den LKW-Fahrer mit 70 Prozent haften: Dieser hätte nicht einfach knapp hinter dem Radlader vorbeifahren dürfen, ohne zumindest einmal auf die Hupe zu drücken (Urteil vom 23.5.2012, Az. 1 U 8/12).

Praxistipp


Ganz egal, wo man rückwärts rangiert: Man sollte sich nie darauf verlassen, dass gerade kein Auto kommt, hier keines kommen kann oder man irgendwelche Vorrechte hat. Ansonsten ist man schnell mit hohen Schadensersatzforderungen konfrontiert. Bei der Beurteilung Ihres individuellen Falles und einem möglichen Verfahren vor Gericht hilft ein Rechtsanwalt für Verkehrsrecht.

(Bu)


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