BAG, Urt. 13.12.2023 - 5 AZR 137/23

Erschütterung des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Autor: Rechtsanwalt & Mediator Dr. Ralf Steffan, Linde Steffan Prehm, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 04/2024
Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kann erschüttert sein, wenn der Arbeitnehmer nach Zugang der Kündigung eine oder mehrere Folgebescheinigungen vorlegt, die passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfassen. Das gilt jedenfalls dann, wenn er unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses eine neue Beschäftigung aufnimmt.

EFZG § 3 Abs. 1 Satz 1, § 5 Abs. 1 Satz 2; ZPO § 292; SGB V § 275 Abs. 1a

Das Problem

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.

Der Kläger legte der Beklagten am 2.5.2022 eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom selben Tag für die Zeit vom 2. bis 6.5.2022 vor. Mit Schreiben vom 2.5.2022, das dem Kläger am 3.5.2022 zuging, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis zum 31.5.2022. Mit einer Folgebescheinigung vom 6.5.2022 belegte der Kläger seine Arbeitsunfähigkeit bis zum 20.5.2022 und in einer weiteren Folgebescheinigung vom 20.5.2022 bis zum 31.5.2022. Ab dem 1.6.2022 war er wieder arbeitsfähig und nahm eine neue Beschäftigung auf.

Die Beklagte verweigerte die Entgeltfortzahlung, da wegen der Koinzidenz zwischen der Kündigung und der vom 2. bis zum 31.5.2022 bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit bestünden. Der Kläger behauptete, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei nicht erschüttert. Er habe sich zunächst krankgemeldet, erst daraufhin habe die Beklagte die Kündigung ausgesprochen. Dies stehe einer zeitlichen Koinzidenz von Kündigung und Krankmeldung entgegen, zumal es sich um eine Arbeitgeberkündigung handele.

Die Vorinstanzen hatten der Klage für den gesamten Zeitraum stattgegeben.

Die Entscheidung des Gerichts

Die Revision der Beklagten hat überwiegend Erfolg. Mit Ausnahme des ersten Zeitraums (2. bis 6.5.2022) sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert.

Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit werde i.d.R. durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung i.S.d. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründe jedoch keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit i.S.d. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre.

Der Arbeitgeber könne den Beweiswert durch den Vortrag tatsächlicher Umstände, die ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit begründen, erschüttern. Ernsthafte Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit bestünden dann, wenn der Arbeitnehmer zu einem Zeitpunkt, zu dem feststehe, dass das Arbeitsverhältnis enden soll, arbeitsunfähig werde und bis zum Ablauf der Kündigungsfrist bleibe. Wer die Kündigung erklärt habe, sei dabei unerheblich.

Für den ersten Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit sei der Beweiswert nicht erschüttert, weil die Kündigung erst nach Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zugegangen sei. Anderes gelte indes für die Folgebescheinigungen, die passgenau den Zeitraum bis zum Ende der Kündigungsfrist abgedeckt hätten. Dabei berücksichtigte das Gericht auch, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen jeweils bis zu einem Freitag erfolgten, während die letzte bis zu einem Dienstag reichte und der Kläger am darauffolgenden Tag eine neue Beschäftigung aufgenommen habe.

Diese Tatsachen begründen ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Klägers mit der Folge, dass dieser nunmehr die volle Beweislast für deren Vorliegen trage.


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