EuGH, Urt. 22.6.2021 - C-683/18

Unionskonforme Störerhaftung von YouTube bzw. Sharehostern

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 08/2021
Das vom BGH für Video-Sharing- und Sharehosting-Plattformen entwickelte Haftungsregime ist mit Art. 8 Abs. 3 RL 2001/29/EG vereinbar.

GRC Art. 11, 16, 17 Abs. 2; RL 2001/29/EG Art. 3 Abs. 1, Art. 8 Abs. 3; RL 2004/48/EG Art. 11 Satz 1, Art. 13; RL 2000/31/EG Art. 14, 15

Das Problem

Vom I. Zivilsenat der BGH jeweils zur Störerhaftung von YouTube bzw. eines Sharehosters vorgelegte Auslegungsfragen wurden vom EuGH in einem Verfahren zusammengefasst.

Die Entscheidung des Gerichts

Täterschaft des Plattformbetreibers: Art. 3 Abs. 1 RL 2001/29/EG umfasse neben den beiden Tatbestandsmerkmalen der Wiedergabehandlung und der Öffentlichkeit der Wiedergabe (vgl. hierzu Rz. 69) weitere unselbständige Kriterien, wie insb. die zentrale Rolle eines Plattformbetreibers und seinen Vorsatz. Eine Wiedergabehandlung des Plattformbetreibers könne bei Vorsatz bzgl. rechtswidriger Verbreitung durch die Nutzer erfüllt sein (Rz. 68; EuGH v. 14.6.2017 – C-610/15, ECLI:EU:C:2017:456 – Stichting Brein Rz. 26 m.w.N., CR 2017, 813).

Eigenverantwortlichkeit der Nutzer: Die potenziell rechtsverletzenden Inhalte würden nicht vom Betreiber, sondern eigenverantwortlich von den Nutzern hochgeladen und öffentlich zugänglich gemacht: beim Sharehosting per Veröffentlichung des Downloadlinks etwa in „Linksammlungen“, bei YouTube durch Auswahl der Verbreitungsform „öffentlich“. Daher nähmen die Nutzer eine Wiedergabehandlung i.S.v. Art. 3 Abs. 1 RL 2001/29/EG vor (Rz. 73 ff.).

Mithaftung des Plattformbetreibers: Der Plattformbetreiber spiele objektiv hinsichtlich der von seinen Nutzern bewirkten Zugänglichmachung potenziell rechtsverletzender Inhalte aufgrund der bloßen Bereitstellung der Plattform eine zentrale Rolle (vgl. EuGH v. 14.6.2017 – C-610/15, ECLI:EU:C:2017:456 – Stichting Brein Rz. 36 f., CR 2017, 813). Letztere sei nicht isoliert (vgl. zum expliziten Ausschluss der undifferenzierten Wiedergabehandlung des Plattformbetreibers Erwgrd. 27 RL 2001/29/EG i.V.m. Art. 8 WCT), sondern in ihrem Zusammenwirken insb. mit dem des „Vorsatzes“ anzuwenden (Rz. 78 f.).

Konkrete Kenntnis: Die allgemeine Kenntnis von geschützten Inhalten auf der Plattform allein genüge nicht (Rz. 84 f.). Der für die Wiedergabehandlung erforderliche Vorsatz sei vielmehr anzunehmen bei
  • Wissen und Absicht der öffentlichen Zugänglichmachung (Rz. 81 f. m.w.N.);
  • Unterlassen sorgfältiger, glaubwürdiger und wirksamer Abwehrtechnik bei Wissen oder Wissenmüssen im Allgemeinen von der öffentlichen Zugänglichmachung (Rz. 84, 102);
  • Beteiligung an der Auswahl geschützter Inhalte, Angebot von Hilfsmitteln zum unerlaubten Teilen oder wissentlichem Fördern etwa durch ein dazu verleitendes Geschäftsmodell (Rz. 84, 102) oder
  • Unterlassen unverzüglicher Sperrung nach Verletzungshinweis bzw. konkreter Kenntnis (Rz. 85, 102).
Keine Vorsatzvermutung aufgrund Erwerbszwecken: Eine Gewinnerzielungsabsicht (vgl. zur Auswirkung EuGH v. 14.6.2017 – C-610/15, ECLI:EU:C:2017:456 – Stichting Brein Rz. 29 m.w.N., CR 2017, 813) erlaube wegen Art. 8 Abs. 3, Erwgrd. 27 RL 2001/29/EG (s.o.) keine Vorsatzvermutung. Gegenteiliges ergebe sich nicht daraus, dass sich ein Linksetzer bei Gewinnerzielungsabsicht von der Befugnis zum öffentlichen Zugänglichmachen durch die verlinkte Website vergewissern müsse (so EuGH v. 8.9.2016 – C-160/15, ECLI:EU:C:2016:644 – GS Media Rz. 44–55, CR 2017, 43 = ITRB 2017, 28 [Rössel]), da er zum Zeitpunkt der Linksetzung Kenntnis vom Webseiteninhalt nehmen könne, während der Plattformbetreiber keine konkrete Kenntnis vom hochgeladenen Inhalt habe und außer der Plattform keinen Beitrag leiste (Rz. 87 ff.).

Keine Wiedergabehandlung von YouTube: YouTube sei nicht an Erstellung, Auswahl oder Vorabkontrolle der automatisiert hochgeladenen Inhalte beteiligt, weise etwa in den AGB auf die Beachtung des Urheberrechts hin und drohe für dessen wiederholte Verletzung mit Kontosperrung. Meldebutton und spezielles Benachrichtigungsverfahren sowie Inhaltserkennungsprogramme dienten als technische Verfahren der wirksamen Verletzungsbekämpfung. Ranglisten der Suchergebnisse, inhaltliche Rubriken und Empfehlungssysteme zielten weder auf Förderung noch Erleichterung von Rechtsverletzungen ab. Trotz Werbeeinnahmen und Provisionen sei nicht ersichtlich, dass das Geschäftsmodell auf rechtsverletzenden Inhalten beruhe oder zu Rechtsverletzungen verleiten solle. Ziel oder hauptsächliche Nutzung von YouTube bestehe nicht im unerlaubten Teilen geschützter Inhalte (Rz. 92–96).

Wiedergabegesichtspunkte beim Sharehoster: Das Gleiche wie für YouTube gelte für den Sharehoster hinsichtlich Erstellung, Auswahl, Vorabkontrolle und Hinweisen zur Beachtung des Urheberrechts. Anders als bei YouTube würden hier ganz allgemein – also auch für rechtmäßige Inhalte – keine Hilfsmittel zur öffentlichen Identifizierung oder Zugangsverschaffung angeboten. Eine überwiegende rechtswidrige Nutzung wäre einer der Gesichtspunkte der Vorsatzfeststellung, der umso bedeutsamer werde, je eher sorgfältige geeignete Abwehrtechnik unterlassen werde. Vorsatz könnte aus dem Geschäftsmodell abzuleiten sein, wenn es auf rechtsverletzenden Inhalten beruhe und zu deren Teilen verleite (Rz. 97–101).

Anwendung der Haftungsprivilegierungen: Video-Sharing oder Sharehosting falle in den Anwendungsbereich von Art. 14 Abs. 1 ECRL, sofern der Betreiber als „Vermittler“ i.S.v. Erwgrd. 42 ECRL keine Inhaltekenntnis oder -kontrolle verschaffende aktive Rolle spiele und seine Tätigkeit rein technischer, automatischer und passiver Art sei (Rz. 103 ff., 117; vgl. EuGH v. 12.7.2011 – C-324/09, ECLI:EU:C:2011:474 – L’Oréal Rz. 113 m.w.N., CR 2011, 597 = ITRB 2011, 198 [Kunczik]). Ein Plattformbetreiber, der über die bloße Bereitstellung der Plattform zur Urheberrechtsverletzung beitrage und so eine öffentliche Wiedergabe i.S.v. Art. 3 Abs. 1 RL 2001/29/EG vornehme, erfülle nicht die Anwendungsvoraussetzungen von Art. 14 Abs. 1 ECRL (Rz. 108).

Verlust der Privilegierungen: Tatsächliche Kenntnis bzw. Bewusstsein von Umständen offensichtlicher Rechtswidrigkeit i.S.v. Art. 14 Abs. 1 lit. a ECRL liege wegen des herzustellenden Gleichgewichts mit der Meinungsäußerungsfreiheit i.S.v. Art. 11 GRC (Erwgrd. 41, 46 ECRL; vgl. auch Rz 64 f. zu Erwgrd. 3, 31 RL 2001/29/EG) durch das Verbot allgemeiner Überwachungs- und Nachforschungspflichten nach Art. 15 Abs. 1 ECRL und der auf konkrete Inhalte bezogenen Sperrpflicht nach Kenntnisnahme gem. Art. 14 Abs. 1 lit. b ECRL nicht bei abstrakter Kenntnis von der rechtsverletzenden Zugänglichmachung vor. Automatisierte Inhalte-Indexierung, Suchfunktion und Empfehlungssystem erfüllten nicht konkrete Kenntnis. Die Anwendung technischer Abwehrmaßnahmen führe nicht per se zu einer privilegierungsschädlichen aktiven Rolle (Rz. 109, 111–114, 118).

Bewusstsein offensichtlicher Rechtswidrigkeit: Das Bewusstsein i.S.v. Art. 14 Abs. 1 lit. a Alt. 2 ECRL liege vor, wenn etwa aufgrund proaktiver Prüfung oder nach hinreichend genauem und belegtem Verletzungshinweis Umstände bewusst geworden seien, auf deren Grundlage ein sorgfältiger Wirtschaftsteilnehmer die Rechtswidrigkeit hätte feststellen müssen. Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit bedeute, dass diese leicht erkennbar sein müsse. Ein Verletzungshinweis stelle i.d.R. einen Anhaltspunkt für die gerichtliche Würdigung des Bewusstseins i.S.v. Art. 14 Abs. 1 lit. a Alt. 2 ECRL dar (EuGH v. 12.7.2011 – C-324/09, ECLI:EU:C:2011:474 – L’Oréal Rz. 122, CR 2011, 597 = ITRB 2011, 198 [Kunczik]). Er müsse ausreichende Angaben enthalten, sich ohne eingehende rechtliche Prüfung von der Rechtswidrigkeit der Wiedergabe und der Vereinbarkeit der Beseitigung mit der Meinungsäußerungsfreiheit zu überzeugen (Rz. 113–116).

Haftungsauslösender Verletzungshinweis: Dass nach der Störerhaftung ein Rechtsanspruch auf Beseitigung und Unterlassung erst nach Kenntniserlangung i.S.v. Art. 14 Abs. 1 lit. a ECRL i.d.R. durch einen Verletzungshinweis und anschließende Untätigkeit entstehe, sei mit der Haftung des Vermittlers nach Art. 8 Abs. 3 RL 2001/29/EG vereinbar. Denn die Störerhaftung trage gerade den Artt. 14 Abs. 1, 15 Abs. 1 ECRL Rechnung, die nach Erwgrd. 16 RL 2001/29/EG zu beachten seien (Rz. 121–126, 143).

Haftungssystem der ECRL: Nach Art. 14 Abs. 3 ECRL sei eine Option von NTD-Verfahren vorgesehen, die dem nach Art. 8 Abs. 3 RL 2001/29/EG zu garantierenden Rechtsbehelf Prozesskosten vermeidend vorgeschaltet sei. Art. 15 Abs. 1 ECRL stehe allgemeinen Filterpflichten entgegen, zu denen der Plattformbetreiber bei einer Beseitigungspflicht vor Kenntniserlangung gezwungen wäre. Die Störerhaftung beeinträchtige nicht den Ausgleich zwischen Art. 17 Abs. 2 GRC und andererseits Artt. 11, 16 GRC und verhindere nicht die Möglichkeit wirksamen Schutzes gegen Urheberrechtsverletzungen (Rz. 128–140).

Eilbedürftigkeit: Unverzüglichkeit der Beendigung der Rechtsverletzung i.S.v. Art. 14 Abs. 1 lit. b ECRL gebiete jedoch, dass sie nicht derart verzögert werden dürfte, dass dem Rechtsinhaber unverhältnismäßige Schäden entstünden. Hierbei seien Schnelligkeit und geografische Ausbreitung i.S.v. Art. 18 Abs. 1, Erwgrd. 52 ECRL zu berücksichtigen, mit denen solche Schäden entstehen könnten (Rz. 141 ff.).

Offen gelassene Fragen: Da keine öffentliche Wiedergabe durch YouTube und kein Verlust der Haftungsprivilegierung anzunehmen seien, könnten die andernfalls gestellten Fragen offenlassen, ob YouTube als Verletzer i.S.v. Artt. 11 Satz 1, 13 RL 2004/48/EG anzusehen sei, der im Gegensatz zum Vermittler auf Schadensersatz und Gewinnherausgabe hafte, und ob Schadensersatz davon abhängig gemacht werden dürfe, dass der Verletzer sowohl in Bezug auf seine eigene Verletzungshandlung als auch bzgl. der des Dritten vorsätzlich (oder fahrlässig) gehandelt habe (Rz. 37 f., 144).


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