BAG, Urt. 25.4.2018 - 2 AZR 611/17

Verdachtskündigung – Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Gerichts und Anhörung

Autor: RAin FAinArbR Daniela Range-Ditz, Dr. Ditz und Partner, Rastatt
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 11/2018
Für die volle richterliche Überzeugungsbildung bei einer Verdachtskündigung genügt es, dass ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit erreicht ist, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen. Das Gericht muss auch Hilfstatsachen vollständig und erschöpfend würdigen. Dies ist in den Urteilsgründen ausführlich darzulegen. Formelhafte Wendungen ohne Bezug zu den konkreten Fallumständen reichen nicht. Der Umfang der Anhörung vor Ausspruch einer Verdachtskündigung richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Die Anhörung muss nicht den Anforderungen genügen, die an eine Anhörung des Betriebsrats nach § 102 BetrVG zu stellen sind.

BAG, Urt. v. 25.4.2018 - 2 AZR 611/17

Vorinstanz: LAG Hamm - 17 Sa 1540/16

BGB § 241 Abs. 2, § 626; ZPO § 286 Abs. 1; GwG § 1 Abs. 20, § 2 Abs. 1 Nr. 1, § 6 Abs. 1 Satz 1 u. Abs. 2 Nr. 5, § 43 Abs. 1

Das Problem

Die Klägerin, Kassiererin bei einer kommunalen Sparkasse, hatte im Rahmen der ihr obliegenden Aufgaben bei der Deutschen Bundesbank Bargeld i.H.v. 115.000 € in 50-Euro-Scheinen bestellt. Sie quittierte den Empfang der Lieferung sowie die Unversehrtheit der Plombe des Geldbehälters gegenüber den beiden Geldboten. Anschließend öffnete sie den Behälter entgegen dem eigentlich vorgeschriebenen Vier-Augen-Prinzip allein. Rund 20 Minuten nach Anlieferung informierte sie einen Kollegen, dass sie in dem Behälter lediglich Babynahrung und Waschmittel gefunden habe.

Die Ermittlungen gegen die beiden Geldboten verliefen ergebnislos. Die Polizei fand in der Wohnung der Klägerin 3.100 € jeweils in 50-Euro-Scheinen und in deren Bankschließfach mehrere Umschläge mit Bargeld i.H.v. mehr als 30.000 € in unterschiedlicher Stückelung. Zudem ermittelte sie, dass die Klägerin Schulden i.H.v. mehr als 100.000 € hat. Die weiteren Ermittlungen ergaben, dass die Klägerin diverse Bareinzahlungen seit der Geldanlieferung auf ihr Konto und jene ihrer Angehörigen getätigt hatte.

Nach Anhörung der Klägerin kündigt die beklagte Arbeitgeberin das Arbeitsverhältnis wegen des Verdachts der Veruntreuung von 115.000 € fristlos, hilfsweise außerordentlich mit Auslauffrist. Zu Recht?

Die Entscheidung des Gerichts

Das BAG erachtet die Revision der Beklagten gegen die klagestattgebenden Entscheidungen der Vorinstanzen für begründet: Beide Vorinstanzen hätten mit der gegebenen Begründung nicht das Fehlen eines wichtigen Grundes i.S.v. § 34 Abs. 2 Satz 1 TVöD-S, § 626 Abs. 1 BGB annehmen dürfen.

Für die volle richterliche Überzeugungsbildung nach § 286 Abs. 1 ZPO sei bereits ausreichend, dass ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit erreicht sei, der Zweifeln Schweigen gebiete, ohne diese völlig ausschließen zu müssen (BAG, Urt. v. 16.7.2015 – 2 AZR 85/15, ArbRB 2016, 70 [Range-Ditz]). Das Gericht habe die insoweit maßgebenden Umstände vollständig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu ermitteln und alle Beweisanzeichen erschöpfend zu würdigen. Ferner müsse das Gericht die wesentlichen Grundlagen seiner Überzeugungsbildung in den Urteilsgründen nachvollziehbar darlegen (BAG, Urt. v. 21.9.2017 – 2 AZR 57/17, ArbRB 2017, 363 [Windeln]). Insbesondere genüge es nicht, die gewonnene Überzeugung allein durch formelhafte Wendungen ohne Bezug zu den konkreten Fallumständen zum Ausdruck zu bringen. Die Tatsacheninstanzen müssten erkennen lassen, welche Indiztatsachen sie insoweit in ihre Würdigung einbezogen und welche Beweiskraft sie ihnen im Einzelnen und in der Gesamtschau beigemessen hätten.


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