EuGH, Urt. 13.7.2023 - C-134/22

Massenentlassung – Verpflichtung des Arbeitgebers zur Übermittlung einer Auskunftsabschrift an die Agentur für Arbeit

Autor: RA FAArbR Dr. Patrick Esser, Seitz Rechtsanwälte Steuerberater PartG mbB, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 08/2023
Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG ist dahin auszulegen, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift zumindest der in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 1 Buchst. b Ziff. i bis v RL 98/59/EG genannten Bestandteile der schriftlichen Mitteilung, die Arbeitnehmervertretern zur Konsultation zugeleitet wurde, zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Richtlinie (RL) 98/59/EG Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2; BGB § 134; KSchG § 17 Abs. 2, § 17 Abs. 3 Satz 1

Das Problem

Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Arbeitgeberin, bei der der Kläger angestellt ist. Infolge einer Einstellung des Geschäftsbetriebs sollten mehr als 10 % der 195 dort beschäftigten Arbeitnehmer entlassen werden.

Der Beklagte führte ein Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 KSchG durch, leitete der zuständigen Agentur für Arbeit indes keine Abschrift des Konsultationsschreibens an den Betriebsrat zu (§ 17 Abs. 3 KSchG). Anschließend erstattete er die Massenentlassungsanzeige und kündigte die betroffenen Arbeitsverhältnisse, u.a. das des Klägers.

Die Vorinstanzen wiesen die Kündigungsschutzklage des Klägers ab; der Sechste Senat des BAG setzte den Rechtsstreit aus und legt dem EuGH die Frage vor, ob die Übermittlung einer Auskunftsabschrift an die zuständige Behörde dem Individualschutz dient.

Die Entscheidung des Gerichts

Der EuGH stellt klar, dass Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG dahin auszulegen ist, dass die Verpflichtung des Arbeitgebers, der zuständigen Behörde eine Abschrift des Schreibens an den Betriebsrat zu übermitteln, nicht den Zweck hat, den betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren.

Nach Art. 2 Abs. 2 RL 98/59/EG besteht der Zweck der Konsultation mit den Arbeitnehmervertretern darin, Kündigungen von Arbeitsverträgen zu vermeiden oder ihre Zahl zu beschränken sowie ihre Folgen zu mildern. Die Auskünfte, die der Arbeitgeber den Arbeitnehmervertretern zu erteilen hat, unterliegen einer Entwicklung und können sich ändern, damit die Arbeitnehmervertreter in die Lage versetzt werden, konstruktive Vorschläge zu unterbreiten. Die Behörde kann daher nicht voll und ganz auf die übermittelten Informationen vertrauen, um die bei einer Massenentlassung anfallenden Maßnahmen vorzubereiten.

Zum anderen wird der Behörde im Verfahren der Konsultation der Arbeitnehmervertreter – anders als im Massenentlassungsverfahren – keine aktive Rolle zugewiesen. Dementsprechend setzt die Übermittlung einer Abschrift des Konsultationsschreibens weder eine vom Arbeitgeber einzuhaltende Frist in Gang noch schafft sie eine Verpflichtung für die zuständige Behörde.

Schließlich dient die vorgesehene Übermittlung von Informationen an die zuständige Behörde nur Informations- und Vorbereitungszwecken. Der Zweck der Verpflichtung, Informationen an die Behörde zu übermitteln, besteht darin, es ihr zu ermöglichen, die negativen Folgen beabsichtigter Massenentlassungen so weit wie möglich abzuschätzen, damit sie, wenn ihr diese Entlassungen angezeigt werden, nach Lösungen suchen kann. Die Behörde soll sich nicht mit der individuellen Situation jedes einzelnen Arbeitnehmers befassen, sondern die beabsichtigten Massenentlassungen allgemein betrachten. Die Vorschrift gewährt daher einen kollektiven und keinen individuellen Schutz.


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