Arbeitsunfall und Ausbildung - Gedanken zu § 90 SGB VII

07.02.2015, Autor: Herr Rembert Michael Schmidt / Lesedauer ca. 3 Min. (740 mal gelesen)
Bemessung der Unfallrente nach dem JAV bei abgeschlossener Ausbildung

Das 7. Buch des SGB (Sozialgesetzbuch VII) regelt das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung, organisiert durch eine BG (Berufsgenossenschaft) oder Unfallkasse. Diese zahlt bei Arbeitsunfall oder Berufskrankheit bestimmte Leistungen, wobei Rentenzahlungen naturgemäß besonders begehrt sind.

Eine solche Unfallrente wird ab einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20% gezahlt. Unfallrenten sind beliebt, denn sie werden lebenslang gezahlt. Die Höhe der Unfallrente bemisst sich nach dem JAV (Jahresarbeitsverdienst), wobei von dem Verdienst des Versicherten in den letzten 12 Monaten vor dem Unfall ausgegangen wird. Die Vollrente beträgt 2/3 des JAV. Liegt der JAV z.B. bei 30.000,-- €, dann wird bei einer Unfallrente von 20% ein monatlicher Betrag von rund 333,-- € ausgezahlt, ein Leben lang. Es geht also um Geld, für den Versicherten und auch für seine Berufsgenossenschaft. Nun ist es nicht gleichgültig, ob der JAV 20.412,-- € beträgt (Mindest-JAV) oder 96.000,-- € (Höchst-JAV Verwaltungs-BG). Im ersten Fall beträgt die lebenslange Unfallrente bei 20% 226,80 €, im zweiten Fall 1.066,-- €. Merke: Für die Höhe der Unfallrente ist der JAV maßgebend.

Nun kommt § 90 SGB VII ins Spiel. § 90 Absatz 1 Satz 1 SGB VII lautet wörtlich:

"Tritt der Versicherungsfall vor Beginn der Schulausbildung oder während einer Schul- oder Berufsausbildung der Versicherten ein, wird, wenn es für die Versicherten günstiger ist, der Jahresarbeitsverdienst von dem Zeitpunkt an neu festgesetzt, in dem die Ausbildung ohne den Versicherungsfall voraussichtlich beendet worden wäre."

Liest man den Wortlaut des Paragrafen unbefangen, dann wird in allen Fällen, in denen der Unfall vor oder während der Ausbildung eingetreten ist, der JAV nach dem fiktiven Zeitpunkt des Abschlusses der Ausbildung neu berechnet, also höher festgesetzt. Dies war bisher die gängige Praxis und jahrzehntelange Rechtsprechung, ganz gleich, ob die angestrebte Ausbildung unfallbedingt nicht beendet werden konnte oder trotz des Unfalls ordnungsgemäß beendet wurde.

Nun hat das BSG (Bundessozialgericht) entschieden, dass die Höherstufung des JAV für diejenigen nicht gilt, die ihre Ausbildung zeitgerecht abgeschlossen haben (Urteil vom 18.09.212, AZ B 2 U 11/11 R). In der umfangreichen Begründung wird angegeben, dass dieser Personenkreis durch den Unfall keinen weiteren Nachteil erleidet, da er entsprechend höher entlohnt wird. Der Paragraf sei daher auf Verletzte, die ihre Ausbildung zeitgerecht abgeschlossen haben, nicht anzuwenden. Diese hätten durch die abgeschlossene Ausbildung einen höheren Verdienst.

Dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen. Doch findet es sich im Wortlaut des Gesetzes wieder? Das SG (Sozialgericht) Reutlingen stellt in seinem Urteil vom 28.10.2013 (AZ S 7 U 3373/11) fest, dass es der Auffassung des BSG nicht folgen kann. Denn es sei kein rechtfertigender Grund ersichtlich, einem Versicherten mit verzögerter Ausbildung durch die fiktive Vorverlegung des Ausbildungsendes einen vollen Ausgleich zu gewähren, einem Versicherten ohne verzögerte Ausbildung die Neufestsetzung jedoch zu verweigern. Denn in beiden Fällen sei die Ausgangsposition der Betroffenen insoweit gleich, dass sie aufgrund der Ausbildungssituation zunächst nur einen niedrigen Jahresarbeitsverdienst haben.

Eine Änderung des Gesetzes könnte Klarheit schaffen. Diese ist tatsächlich geplant: Der Entwurf eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache Nr. 18/3699 vom 07.01.2015) sieht folgende Änderung des Siebten Buches Sozialgesetzbuch vor:

In § 90 Absatz 1 Satz 1 werden nach den Wörtern "beendet worden wäre" die Wörter "oder bei einem regelmäßigen Verlauf der Ausbildung tatsächlich beendet worden ist" eingefügt.

Damit ist der alte Zustand wieder hergestellt und die jahrzehntelange Praxis kann fortgeführt werden. Dann besteht jedoch kein Anlass für die Berufsgenossenschaften, sich in der Zwischenzeit auf das BSG-Urteil vom 18.09.212 zu berufen und in den betroffenen Fällen den niedrigeren JAV zugrunde zu legen. Oder gar den Bestand zu durchforsten und in Fällen abgeschlossener Ausbildung die Renten einzufrieren.