BVerfG, Urt. 10.11.2020 - 1 BvR 3214/15

Datenschutz gegen Data-Mining

Autor: RA Markus Rössel, LL.M. (Informationsrecht), Köln
Aus: IT-Rechtsberater, Heft 03/2021
Das Eingriffsgewicht der gemeinsamen Nutzung einer Verbunddatei der Polizeibehörden und Nachrichtendienste ist beim Data-Mining weiter erhöht.

GG Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1; ATDG § 6a Abs. 2 Satz 1

Das Problem

Am 1.1.2015 ist der mit § 7 Rechtsextremismus-Datei-Gesetz (REDG) fast identische und ebenso wegen Softwareproblemen bisher nicht angewendete § 6a Antiterrordateigesetz (ATDG) zur „erweiterten projektbezogenen Datennutzung“ in der Antiterror-Verbunddatei der Nachrichtendienste und Polizeibehörden in Kraft getreten. Er erlaubt zur Gewinnung neuer Erkenntnisse die maschinelle Verknüpfung und weiterführende Analyse einfacher und erweiterter Grunddaten, wie u.a. Bankverbindungen, Familienstand und Volkszugehörigkeit, welche in der Regel nur zur Vorbereitung eines fachrechtlichen Auskunftsersuchens genutzt werden konnten. Die Neuregelung ermöglicht demgegenüber Querverbindungen u.a. zwischen Personen, Gruppierungen und Sachen sowie den Ausschluss unbedeutender Erkenntnisse.

Die Entscheidung des Gerichts

Die Nutzung zur Strafverfolgung gem. § 6a Abs. 2 Satz 1 ATDG sei ohne Übergangsregelung nichtig.

Eingriff durch Data-Mining: Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG liege hier nicht nur in der Verknüpfung vormals getrennter Daten, sondern auch im Data-Mining. Dadurch könnten mit praktisch allen informationstechnisch möglichen Methoden zumeist auf statistisch-mathematische Weise weitreichende Erkenntnisse ggf. auch für operative Maßnahmen abgeschöpft werden (vgl. ähnliches Eingriffsgewicht BVerfG v. 4.4.2006 – 1 BvR 518/02 – Rasterfahndung, CR 2006, 594 = ITRB 2006, 150 [Schneider, Rössel, Conrad]).

Eigenständiger Gehalt: Die Erzeugung neuer Zusammenhänge könnte ein Gefühl des Beobachtetwerdens hervorrufen und Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung entfalten (vgl. BVerfG v. 2.3.2010 – 1 BvR 256/08 – Vorratsdatenspeicherung Rz. 212, CR 2010, 232 = ITRB 2010, 74 [Rössel]), weil heimlich Daten verschiedenen Ursprungs und u.a. höchstpersönlichen biografischen Gewichts zu verschiedenen Zwecken kombiniert werden könnten (Rz. 112 ff.).

Rechtsguts- und Eingriffsgewicht: § 6a ATDG verfolge zwar mit der Terrorismusbekämpfung geeignet und erforderlich ein legitimes Ziel. Im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit i.e.S. habe der Gesetzgeber allerdings Eingriffsschwellen, die erforderliche Tatsachenbasis und das Rechtsgütergewicht zu beachten. Das hierbei einzustellende Eingriffsgewicht werde vor allem durch Art, Umfang und denkbare Verwendung der Daten sowie die Missbrauchsgefahr bestimmt. Dabei sei u.a. bedeutsam, wie intensiven Beeinträchtigungen wie viele Grundrechtsträger ausgesetzt seien, ob sie hierfür einen Anlass gegeben hätten, ob sie anonym blieben, welche Nachteile von ihnen nicht grundlos befürchtet würden, welche Informationen erfasst würden, die Heimlichkeit der Maßnahme und die faktische Erschwerung vorherigen oder nachträglichen Rechtsschutzes (Rz. 96).

Hypothetische Datenneuerhebung: Nicht operativ primär der politischen Vorfeldaufklärung dienende Nachrichtendienste, für die aufgrund ihrer Aufgabenstellung weniger strenge Anforderungen gälten, dürften Daten nicht ohne weiteres an ggf. mit Zwangsmaßnahmen operierende Polizei- und Sicherheitsbehörden weiterleiten, die ihrerseits mit einem konkreten tatsächlichen Anlass für die Datenverarbeitung, wie tatsächliche Anhaltspunkte für Tatverdacht oder Gefahr, strengeren Anforderungen unterlägen (Informationelles Trennungsprinzip). Deshalb sei die Übermittlung an das Erfordernis eines herausragenden öffentlichen Interesses, also am Schutz von besonders gewichtigen Rechtsgütern wie Leib, Leben und Freiheit der Person sowie Bestand oder Sicherheit des Bunds oder eines Lands, und hinreichend konkreter und qualifizierter Übermittlungsschwellen zu knüpfen (BVerfG v. 24.4.2013 – 1 BvR 1215/07 – ATDG I Rz. 123, CR 2013, 369 = ITRB 2013, 199 [Rössel]; BVerfG v. 19.5.2020 – 1 BvR 2835/17 – Ausland-Ausland-Aufklärung Rz. 218 f., CR 2020, 471 = ITRB 2020, 155 [Rössel]).


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