Patientenanwalt erklärt: Wann wird der Arzthaftungsfall verjährt?

29.05.2015, Autor: Herr Hans-Berndt Ziegler / Lesedauer ca. 4 Min. (473 mal gelesen)
Verjährung von Ansprüchen in Arzthaftungsfällen – ohne Gutachten läuft nichts; auch nicht die Verjährung.

Der Fall

 Die schwangere Antragstellerin verlor Ende 2006 ihr Kind, nachdem in der gynäkologischen Praxis der Antragsgegnerinnen unzureichende CTG-Untersuchungen durchgeführt worden waren. Nach einem (erst) 2011 eingeholten Gutachten lag darin ein grober Behandlungsfehler. (Schon) mit Schreiben vom 05.01.2007 hatten indessen die Anwälte der Antragstellerin bei den Antragsgegnerinnen Ansprüche geltend gemacht. 2013 beriefen sich die Antragsgegnerinnen auf Verjährung. Das OLG gab ihnen Recht. Nach § 199 Abs. 1 S. 2 BGB  beginnt die regelmäßige Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres, in dem der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und  der Person des Schuldners Kenntnis erlangt oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangen müsste. Das OLG führte dazu aus:

 „Sucht ein Patient, der über die Ordnungsgemäßheit einer ärztlichen Behandlung zweifelt, einen Rechtsanwalt auf und ist das Ergebnis dieser Konsultation ein Anspruch anmeldendes Schreiben an den vermeintlichen Haftungsschuldner, liegt regelmäßig die erforderliche Kenntnis im Sinne von § 119 Abs. 1 Nr. 2 BGB vor (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 02.07.2014, GesR 2014, S. 559 ff).“

 Kommentar:

Die Entscheidung ist mit der Rechtsprechung des BGH und dem Gesetz nicht in Einklang zu bringen und daher falsch. Nach der Rechtsprechung des BGH (vgl. z.B. BGH vom 10.11.2009, VersR 2010, 214 ff) kommt es nicht auf die Kenntnis vom Schaden (hier Verlust des Kindes), sondern auf die Kenntnis vom Behandlungsfehler an. Der 6. Zivilsenat hat schon wiederholt ausgesprochen, dass die Kenntnis vom Schaden im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB nicht schon dann bejaht werden kann, wenn dem Patienten lediglich der negative Ausgang der ärztlichen Behandlung bekannt ist. Denn das

Ausbleiben des Erfolgs ärztlicher Maßnahmen kann in der Eigenart der Erkrankung oder in der Unzulänglichkeit ärztlicher Bemühungen seinen Grund haben. Deshalb gehört zur Kenntnis der den Anspruch begründenden Tatsachen das Wissen, das sich in dem Misslingen der ärztlichen Tätigkeit das Behandlungs- und nicht das Krankheitsrisiko verwirklicht hat (BGH NJW 1991, 2350 f). Darüber hinaus muss die Erhebung einer Klage für den Patienten zumutbar sein (Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, Fallgruppenkommentar, 4. Aufl. 2014 Rn. V 56, S. 1588 unter Berufung auf die Rechtsprechung des BGH). Beides lag im Fall der Antragstellerin nicht vor. Bis 2011 war ein Behandlungsfehler nicht durch ein Gutachten festgestellt worden, sondern wurde von der Antragstellerin und ihrem Prozessbevollmächtigten nur vermutet. Vor dieser Zeit war die Erhebung einer Klage auf der Basis einer bloßen Vermutung auch nicht zumutbar. Die Erhebung der Klage musste, wie auch das OLG Saarbrücken nicht verkennt, erfolgversprechend  - wenn auch nicht risikolos - sein (BGH GesR 2010, 132).

Zwar hilft dem Patienten hier die eingeschränkte Substantiierungspflicht in Arzthaftungsangelegenheiten (BGH vom 08.06.2004, GesR 2004, 374). Ins Blaue hinein vorzutragen, reicht andererseits ebenfalls nicht aus (OLG Köln, GesR 2013, 413; OLG München, ZMGR 2014, 333).

In Arzthaftungssachen ist es deshalb üblich und notwendig, zumindest den Sachverhalt und die Haftungsfrage vorgerichtlich genau zu ermitteln bzw. zu überprüfen. Dazu müssen die Krankenunterlagen angefordert und mindestens ein Gutachten zur Frage des Behandlungsfehlers eingeholt werden. Der Anwalt – auch der Fachanwalt für Medizinrecht – kann die Haftungsfrage selbst ebenso wenig beurteilen, wie der spezialisierte Richter. Juristen müssen sich insoweit von ärztlichen Gutachtern mit dem jeweiligen Facharztstandard – hier Gynäkologie – beraten lassen. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des BGH (VersR 1995, 659; 1997, 315; 2008, 644; 2014, 879; BGH XI ZR 106/13 vom 24.02.2015[1]. Im letzten Fall wird die Klägerin von unserer Kanzlei vertreten).

Nach der Entscheidung des OLG Saarbrücken ist die außergerichtliche Begutachtung zum Beispiel durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) oder, wie hier, im Rahmen eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens, obsolet. Die falsche OLG-Entscheidung hätte zur sofortigen Klageerhebung zwingen müssen, weil ein Schlichtungsverfahren vor der Landesärztekammer wegen des Strafverfahrens satzungsmäßig ausgeschlossen war.

Unzumutbar ist die sofortige Erhebung der Klage auch wegen des Kostenrisikos, das in Arzthaftungssachen immens hoch ist, weil in der Regel mehrere Beteiligte verklagt werden müssen. Hätte im Ausgangsfall der Anwalt der Antragstellerin geraten, ohne Gutachten zu klagen und dann den Prozess verloren, würde er aufgrund eines anwaltlichen Kunstfehlers haften.

Auch dieser Umstand führt dazu, dass ohne ein den Behandlungsfehler bejahendes Gutachten die Verjährung nicht läuft. Andererseits dürfte ein Zuwarten über Jahre hinweg, ohne an ein Gutachten zu denken, bei einem begründeten Behandlungsfehlerverdacht die grob fahrlässige Unkenntnis im Sinne des § 199 Abs. 1 Nr. 2 BGB begründen. Eine solche Situation lag im Ausgangsfall wegen des laufenden Ermittlungsverfahrens jedoch nicht vor.

Empfehlung

Beruft sich der Arzt auf die Einrede der Verjährung, obwohl ein positives Behandlungsfehlergutachten gar nicht vorliegt, sollte der Patient bis in die letzte Instanz zum BGH gehen. Ein Urteil des BGH zu der Frage, ob dem Patienten zugemutet werden kann, auch ohne positives Behandlungsfehlergutachten zu klagen, liegt bisher nicht vor.

 
[1] NJW 2015, S. 1601-1603