Aufklärungsfehler: Falsche Häufigkeitsangabe von Komplikationen

16.05.2016, Autor: Herr Hans-Berndt Ziegler / Lesedauer ca. 4 Min. (381 mal gelesen)
Zu Risiken und Nebenwirkungen: Aufklärungsfehler des Arztes durch falsche Angabe der Inzidenz von Komplikationen und Nebenwirkungen.

Wenn Ihr Arzt davon spricht, dass eine bestimmte Komplikation oder Nebenwirkung der Behandlung „selten“ auftrete, was meint er dann damit? Nach einer jüngsten Entscheidung des Landgerichts Bonn, Urteil vom 19.06.2015 – 9 O 234/14, haben sich die Häufigkeitsangaben zum Auftreten von Nebenwirkungen und Komplikationen in ärztlichen Aufklärungsgesprächen und auf den entsprechenden Aufklärungsbögen, an der für Arzneimittel auf Beipackzetteln aufgeführten Häufigkeitsdefinition zu orientieren.

Danach ist die Häufigkeit für das Auftreten von Nebenwirkungen von Arzneimitteln in folgende Klassen unterteilt:

• Sehr häufig (oft): mehr als 1 Behandelter von 10 (> 10 %)
• Häufig (oft): 1 bis 10 Behandelte von 100 (1 – 10 %)
• Gelegentlich: 1 bis 10 Behandelte von 1.000 (0,1 – 1 %)
• Selten: 1 bis 10 Behandelte von 10.000 (0,01 – 0,1 %)
• Sehr selten: weniger als 1 Behandelter von 10.000 (< 0,01 %)
• Nicht bekannt: Häufigkeit auf Grundlage der verfügbaren Daten nicht abschätzbar.

(Quelle: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, Bekanntmachung von Empfehlungen zur Gestaltung von Packungsbeilagen nach § 11 des Arzneimittelgesetzes (AMG) für Humanarzneimittel (gemäß § 77 Absatz 1 AMG) und zu den Anforderungen von § 22 Absatz 7 Satz 2 AMG (Überprüfung der Verständlichkeit von Packungsbeilagen), Abgerufen am 13. Mai 2016.)

Im Ausgangsfall des Landgerichts Bonn hat die Klägerin bei der Beklagten eine Wärmebehandlung (sog. Moxabustion) nach traditioneller chinesischer Medizin zur Linderung der Beschwerden durch geschwollene Augenlieder, Spannungsschmerzen in beiden Augen und Heuschnupfen vornehmen lassen.

Auf der schriftlichen „Leistungsvereinbarung“ mit der Beklagten war vermerkt, „[…] dass es bei einer möglichen Behandlung durch Moxabustion (Wärmebehandlung) in seltenen Fällen zu Brandblasen kommen kann. […]“
Tatsächlich hat die Klägerin eine Brandblase oberhalb des Sprunggelenks davongetragen und begehrte deshalb von der Beklagten die Zahlung von Schmerzensgeld und die Abgabe eines Schuldanerkenntnisses.

Das Gericht bestellte einen Sachverständigen, der erklärte, dass es bei der Moxabustion tatsächlich „oft“ zu Verbrennungen mit nachfolgenden Gewebevernarbungen kommen würde. Mit „oft“ meine er eine Häufigkeit von mehr als 1 %. Da sich die Angabe des Sachverständigen („oft“) nicht mit der Angabe auf der „Leistungsvereinbarung“ der Beklagten („in seltenen Fällen“) deckte, hat das Gericht entschieden, dass die Klägerin nicht hinreichend über das Risiko der Behandlung aufgeklärt worden ist und gab der Klage dem Grunde nach statt.

Das Gericht führt dazu aus, dass Patienten sich regelmäßig an den gängigen Häufigkeitsangaben auf Beipackzetteln von Arzneimitteln orientierten und dies deshalb auch für den Maßstab für die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Komplikationen im Rahmen der ärztlichen Risikoaufklärung zu gelten habe. Im Fall des Landgerichts Bonn konnte die Klägerin durch Verwendung der Formulierung „in seltenen Fällen“ davon ausgehen, dass die Moxabustion lediglich in 0,01 – 0,1 % und nicht in tatsächlich über 1 % der Fälle zu Verbrennungen führt. Durch die fehlerhafte Risikoaufklärung konnte die Klägerin daher nicht das der Moxabustion tatsächlich innewohnende Risiko für Verbrennungen zutreffend einschätzen und folglich auch keine informierte Entscheidung über die Vornahme oder Nichtvornahme der Behandlung treffen.

Besteht daher eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 1 % für Verbrennungen bei der Moxabustions-Behandlung, so hätte auf dem Aufklärungsbogen die Häufigkeitsangabe „oft“ oder „häufig“ nach der für Arzneimittel gültigen Konvention für die statistische Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Komplikationen vermerkt sein müssen.
Denn mit der Angabe, dass eine bestimmte Komplikation „in seltenen Fällen“ auftrete, verbinde der Patient nicht eine tatsächlich „oft“ vorkommende Komplikation.

Kommentar:

Um die Tragweite dieser gerichtlichen Klarstellung erfassen zu können, muss man sich vor Augen führen, dass sich die gängige Praxis der ärztlichen Risikoaufklärung (noch) nicht an den Konventionen für Arzneimittel orientiert und damit zahlreiche Behandlungen wegen fehlerhafter Risikoaufklärung angreifbar sind. Gerade bei häufig durchgeführten Standardoperationen wie beispielsweise dem Ersatz von Hüftgelenken, enthalten die gängigen ärztlichen Aufklärungsbögen noch Formulierungen wie:

„Sehr selten sind Nervverletzungen, die trotz operativer Behandlung (Nervennaht) dauerhafte Störungen wie zum Beispiel eine Teillähmung des Beines verursachen können.“.

Tatsächlich beträgt die Gesamtinzidenz von neurologischen Komplikationen nach Hüftgelenksersatz ca. 0,6 % (Pekkarinen et al. 1999) bis 2,24 % (Oldenburg und Müller 1997). Mit anderen Worten treten diese Komplikationen tatsächlich nicht „sehr selten“, sondern „gelegentlich“ bis „oft“ auf. In derartigen Fällen liegen demzufolge Aufklärungsfehler der Ärzte vor, die Ansprüche auf Schmerzensgeld und Schadensersatz begründen können.

Die Bedeutsamkeit der Entscheidung des Landgerichts Bonn kann demzufolge gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Sollte sich bei Ihnen nach einem ärztlichen Eingriff ein Risiko der Behandlung oder eine Nebenwirkung realisiert haben, so prüfen Sie bitte die entsprechende Angabe zur Häufigkeit der Komplikation auf dem Aufklärungsbogen und konsultieren Sie einen Patientenanwalt. Mittels Sachverständigengutachten kann geklärt werden, ob die Häufigkeitsangabe auf dem Aufklärungsbogen mit der tatsächlichen Inzidenz der Komplikation übereinstimmt.

Ist dies nicht der Fall liegt ein ärztlicher Aufklärungsfehler vor und der Patient/-in hat eine hohe Aussicht auf Erfolg zur Geltendmachung von Schmerzensgeld- und Schadensersatzansprüchen.

Ass.jur., Eric Winter, MA