BGH, Urt. 20.10.2021 - I ZR 96/20

Widerrufsrecht abhängig vom Schwerpunkt des Geschäfts

Autor: RA und FA für Gewerblichen Rechtsschutz und IT-Recht Elmar Kloss, Dr. Caspers Mock & Partner, Koblenz
Aus: IP-Rechtsberater, Heft 12/2021
Ein Vertrag über die Lieferung und Montage eines Kurventreppenlifts mit einer individuell erstellten, an die Wohnverhältnisse des Kunden angepassten Laufschiene ist ein Werkvertrag. Wird ein solcher Vertrag außerhalb von Geschäftsräumen mit einem Verbraucher geschlossen, steht diesem ein Widerrufsrecht nach § 312g Abs. 1 BGB zu, weil der in § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB vorgesehene Ausschluss dieses Rechts Werkverträge nicht erfasst. Die werbliche Angabe eines Anbieters von Treppenliften, im Falle eines Kurventreppenlifts mit individuell geformten und an die Gegebenheiten vor Ort angepassten Laufschienen bestehe kein Widerrufsrecht des Verbrauchers, begründet Erstbegehungsgefahr für einen Verstoß gegen die Pflicht zur Information über das Widerrufsrecht nach § 312g Abs. 1 BGB gem. § 312d Abs. 1 und Art. 246a Abs. 2 Nr. 1 EG-BGB.

BGB §§ 312g, 356

Das Problem

35 Jahre nach Einführung des Widerrufsrechts bei Haustürschäften bzw. 25 Jahre nach Einführung Widerrufsrechts im Fernabsatz lässt sich für Berater immer noch nicht sicher voraussagen, ob in bestimmten Situationen ein Widerrufsrecht besteht oder nicht.

Ein häufiger Streitfall waren in den letzten Jahren „Kurventreppenlifte“ – möglicherweise weil die Kundengruppe als besonders schutzbedürftig bewertet wird. Solche Kurventreppenlifte müssen regelmäßig an die bauliche Situation im spezifischen Treppenhaus angepasst werden. Manchmal genügt dafür eine fachkundige Auswahl und Montage von Standardbauteilen, manchmal werden Stützen und Tragrohr individuell handwerklich angefertigt. Wie muss ein Unternehmen dabei über das Widerrufrecht belehren? Handelt es sich um einen Verbrauchsgüterkauf (Widerrufsfrist ggf. 14 Tage nach Erhalt der Ware) oder um eine Dienstleistung (Widerrufsfrist 14 Tage nach Vertragsschluss, so z.B. BGH, Urt. v. 30.8.20218 – VII ZR 243/17 für einen Senkrechtlift) oder ist ein Widerrufsrecht aufgrund der „Maßanfertigung“ gem. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB ausgeschlossen (so z.B. OLG Köln, Beschl. v. 13.5.2020 – 6 U 300/19 und LG München II, Urt. v. 1.10.2020 -. 1 O 862/19)? Ist evtl. § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB auf Werkverträge per se nicht anwendbar (so OLG Hamm, Urt. v. 10.12.2020 – 4 U 81/20)? Und können die nationalen Rechtsbegriffe Werkvertrag oder Werklieferungsvertrag überhaupt relevant sein, nachdem Deutschland hier doch inzwischen nur die Vorgaben der Verbraucherrechterichtlinie 2011/83/EU umsetzt?

Ein Unternehmen hatte online differenziert belehrt: Bei Individualanfertigung bestehe kein Widerrufsrecht, bei einem voll vorgefertigten Modell bestehe „das gesetzlich vorgesehen 14-tägige Widerrufsrecht.“ LG und OLG Köln bewerteten dies wie erwähnt als korrekt. Eine Verbraucherschutzvereinigung brachte das Verfahren zum BGH.

Die Entscheidung des Gerichts

Der BGH gab der Klage der Verbraucherschutzvereinigung statt.

Es bestehe regelmäßig ein Widerrufsrecht. Nach richtlinienkonformer Auslegung des § 312g Abs. 2 Nr. 1 BGB sei darauf abzustellen, ob der Schwerpunkt des Vertrages auf der Verschaffung von Eigentum und Besitz liege – dann sei ein Kauf- oder Werklieferungsvertrag anzunehmen. Liege der Schwerpunkt des Vertrages dagegen auf der Montage- und Bauleistung bei der Herstellung eines funktionstauglichen Werks, etwa auf Einbau und Einpassung einer Sache in die Räumlichkeiten, und dem damit verbundenen individuellen Erfolg, liege ein Werkvertrag vor. Der Ausschluss des Widerrufsrechts für „Maßanfertigungen“ gem. § 312 Abs. 2 Nr. 1 BGB gelte für Kaufverträge (§ 433 BGB) und Werklieferungsverträge (§ 650 BGB). Dagegen gelte § 312 Abs. 2 Nr. 1 BGB weder für Dienstverträge (§ 611 BGB) noch – jedenfalls im Regelfall – für Werkverträge (§ 631 BGB).

Maßgeblich für die Ermittlung des Schwerpunktes sei das Gesamtvolumen des Vertrages. Deswegen könne ein Werkvertrag auch anzunehmen sein, wenn auf die Montage nur ein sehr geringer Anteil entfalle. Damit hält der BGH an seiner sog. „Schwerpunkttheorie“ fest. Der Senat erwähnt dazu ausdrücklich seine Urteile v. 3.3.2004 – VIII ZR 76/03 – Solaranlage, Urteil v. 19.7.2018 – VII ZR 19/18 – Einbauküche und Urteil v. 30.8.2018 – VII ZR 243/17 – Senkrechtlift sowie die Entscheidung des EuGH 7.9.2017 – C-247/17 – Schottelius.


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