Ein ungeborenes Kind stirbt nach einem Behandlungsfehler!

22.07.2016, Autor: Herr Hans-Berndt Ziegler / Lesedauer ca. 3 Min. (351 mal gelesen)
Arzthaftung bei Fehlgeburt: BGH zur Abgrenzung von Diagnoseirrtum und Befunderhebungsfehler.

Der Fall:

Unsere Mandantin erschien in unserer auf Medizinrecht spezialisierten Anwaltskanzlei um sich durch einen Patientenanwalt im Hinblick auf Schadenersatz- und Schmerzensgeldansprüche beraten zu lassen. Ihr niedergelassener Gynäkologe hatte es versäumt, sie trotz erheblicher Risikofaktoren wie Übergewicht, fortgeschrittenen Alters sowie einer Diabetes-Erkrankung auf das Bestehen einer Risikoschwangerschaft und deren damit einhergehenden besonders engmaschigen und überdurchschnittlichen Überwachungserfordernisse hinzuweisen. Außerdem hatte er es unterlassen, bei einem in der Frühschwangerschaft unserer Mandantin festgestellten positiven Antikörpersuchtest weitere Diagnostik zur Abklärung zu veranlassen. Insbesondere hat er keine serologische Verlaufskontrolle durchgeführt. Da hierdurch ein HELLP-Syndrom bei unserer Mandantin zu spät erkannt wurde, erlitt das ungeborene Kind einen Wachstumsstillstand und musste schließlich in der 24. Schwangerschaftswoche tot zur Welt gebracht werden. Hierbei bestand auch für die Mutter akute Lebensgefahr.
 
Hintergrundwissen Risikoschwangerschaft:

Eine Risikoschwangerschaft liegt vor, wenn eine Gefährdung des ungeborenen Kindes oder der Mutter besteht. Dies wird insbesondere angenommen bei:

-Alter der Mutter unter 20 oder über 35 Jahren
-problematischer Verlauf früherer Schwangerschaften wie Früh- oder Fehlgeburten oder Kaiserschnitt-Entbindungen
-Mehrlingsschwangerschaft
-drohende Frühgeburt oder Überschreiten des Geburtstermins
-allgemeine Erkrankungen wie Diabetes, Adipositas, Asthma, Hepatitis, Epilepsie,      Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Morbus Crohn und Colitis ulcerosa, schwere psychische Erkrankungen, Infektionen oder Schilddrüsenerkrankungen
-Erbkrankheiten in der Familie
-Rauchen oder Alkoholkonsum
-Anwendung von Medikamenten
 
Hintergrundwissen HELLP-Syndrom:

Das HELLP-Syndrom ist eine gefährliche Variante einer schwangerschaftsspezifischen Erkrankung (Gestose). Durch Störungen der Leberfunktion und der Gerinnung besteht sowohl für die Mutter als auch für das ungeborene  Kind eine erhöhte Gefährdung. Die Schwerstform ist die für Mutter und Kind lebensbedrohliche Eklampsie mit Krampfanfällen und Koma. In diesem Fall ist die unverzügliche Entbindung mit Kaiserschnitt die einzige „Therapie“. Wird das HELLP-Syndrom jedoch vorzeitig und somit vor Entwicklung einer Eklampsie diagnostiziert, kann  in Abhängigkeit von Schweregrad und Situation eine medikamentöse Therapie zur Stabilisierung der Mutter sowie zur Lungenreifeinduktion des ungeborenen Kindes eingeleitet werden, um eine kontrollierte Kaiserschnittentbindung nach Erreichen der Lebensfähigkeit des Kindes zu ermöglichen.

 
Zwischenfazit aus medizinischer Sicht:

Ein Anwalt oder Jurist muss für eine erfolgreiche Patientenvertretung zunächst ein fachärztliches Gutachten zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers einholen. Ein solches wurde von uns durch einen Fachanwalt für Medizinrecht zunächst über den medizinischen Dienst der Krankenkasse unserer Mandantin in Auftrag gegeben. Anschließend wurde ein weiterer medizinischer Sachverständiger im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens vor der Landesärztekammer von dieser zur medizinischen Bewertung der Behandlung beauftragt. Beide Gutachter kamen aus fachärztlicher Sicht zu dem Ergebnis, dass es aus medizinischer Sicht nicht nachvollziehbar ist, dass der behandelnde Gynäkologe es unterlassen hat, trotz eines positiven Antikörpersuchtestes bei zusätzlich bekannter Risikoschwangerschaft eine serologische Verlaufskontrolle durchzuführen.

 Aktuelle Rechtsprechung des BGH:

Der BGH hat zuletzt in seiner Entscheidung vom 26.01.2016 (VI ZR 146/14) die Abgrenzung eines Diagnoseirrtums von einem Befunderhebungsfehler konkretisiert. Danach setzt ein (entschuldbarer) Diagnoseirrtum voraus, dass der Arzt die medizinisch gebotenen Befunde überhaupt erhoben hat um sich eine ausreichende Basis für die Einordnung der Krankheitssymptome zu verschaffen und diese sodann lediglich falsch interpretiert und deshalb nicht die aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachbereichs gebotenen – therapeutischen oder diagnostischen- Maßnahmen ergreift.

Ein (haftungsauslösenden) Befunderhebungsfehler hingegen ist gegeben, wenn der Arzt die Erhebung medizinisch gebotener Befunde unterlässt, sofern diese ein reaktionspflichtiges Ergebnis ergeben hätten und der Fehler grundsätzlich geeignet ist, den tatsächlich eingetreten Schaden zu verursachen. 

 Fazit:

Nach Auswertung der medizinischen Gutachten liegt aus juristischer Sicht aufgrund der unterlassenen Befunderhebung ein grober Behandlungsfehler vor. Dies hat zur Folge, dass sich die Beweislast für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und dem eingetretenen Gesundheitsschaden zu Gunsten unserer Mandantin umkehrt, § 630h Abs. 5 S.2 BGB. Das bedeutet, dass der Gynäkologe beweisen muss, dass es auch bei ordnungsgemäßer serologischer Kontrolluntersuchung zum Tod der Tochter unserer Mandantin im Mutterleib gekommen wäre. Diesen Beweis kann der Gynäkologe nicht führen.
 
Zudem ist ein weiterer Behandlungsfehler in der unzureichenden Sicherungsaufklärung im Hinblick auf die Risikoschwangerschaft gemäß § 630c Abs. 2 BGB zu sehen.

Wegen des Vorliegens von groben Behandlungsfehlern in Gestalt einer unterlassenen Sicherungsaufklärung sowie eines groben Befunderhebungsfehlers kann nach der Rechtsprechung des BGH daher vermutet werden, dass bei ausreichend erfolgter Sicherungsaufklärung sowie Befunderhebung der Tod der Tochter unserer Mandantin hätte vermieden werden können, da ein Ursachenzusammenhang zwischen dem groben Behandlungsfehlern und der Fehlgeburt nicht völlig unwahrscheinlich ist.
 
Die gegnerische Haftpflichtversicherung wurde insofern von uns mit einem Anspruchsschreiben zur außergerichtlichen Schadenregulierung aufgefordert.

 
Anne Schunack, Dipl. Wirtschaftsjuristin (FH)

Tätigkeitsschwerpunkt Medizin- & Arzthaftungsrecht