BAG, Urt. 11.6.2020 - 2 AZR 442/19

Außerordentliche Kündigung schwerbehinderter Menschen – Antragsfrist beim Integrationsamt und Kündigungsfrist

Autor: Rechtsanwalt & Mediator Dr. Ralf Steffan, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 10/2020
Bei der außerordentlichen Kündigung schwerbehinderter Menschen haben die Arbeitsgerichte zu prüfen, ob der Arbeitgeber die Kündigung unverzüglich nach der Zustimmung des Integrationsamtes i.S.d. § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt hat.Dagegen obliegt es allein der Beurteilung des Integrationsamtes, ob der Arbeitgeber bei der Antragstellung die Zwei-Wochen-Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX gewahrt hat.

BGB § 121 Abs. 1, § 626 Abs. 1 u. 2; SGB IX § 168, § 174 Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 u. Abs. 5, § 178 Abs. 2; BetrVG § 102; ZPO § 286 Abs. 1

Das Problem

Der Kläger, der einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt ist, arbeitete bei der Beklagten als Hausmeister. Bei einer Überprüfung wurde festgestellt, dass von seinem Dienstanschluss mehr als 2.000 Anrufe zu einer Glücksspiel-Hotline erfolgt sind. Die beklagte Arbeitgeberin hörte den Kläger nach einer zweiwöchigen Arbeitsunfähigkeit zu den Vorwürfen an, die er bestritt. Zwei Tage später beantragte die Beklagte beim Integrationsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung. Zu diesem Zeitpunkt waren mehr als zwei Wochen seit der Kenntnis über die vom Dienstanschluss des Klägers geführten Telefonate vergangen. Nachdem das Integrationsamt den Eintritt der Fiktion gem. § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX bestätigte, hörte die Beklagte am selben Tag den Betriebsrat an und kündigte sechs Tage später.

Nach Ansicht des Klägers liegt kein wichtiger Kündigungsgrund vor. Zudem habe die Beklagte die Zwei-Wochen-Frist nicht eingehalten.

Die Entscheidung des Gerichts

Das BAG hält die Revision gegen die klagestattgebende Entscheidung des LAG für begründet und verweist die Sache an das LAG zurück.

Die Beklagte habe die außerordentliche Kündigung nach § 174 Abs. 5 SGB IX rechtzeitig erklärt. Bei der Frage, ob die Kündigung „unverzüglich“ nach Erteilung der Zustimmung des Integrationsamtes erklärt worden sei, komme es nicht allein auf die objektive Lage an, sondern auf eine verständige Abwägung der beiderseitigen Interessen. Solange der Verpflichtete nicht wisse, dass er eine Rechtshandlung vornehmen müsse, oder mit vertretbaren Gründen annehmen könne, er müsse sie noch nicht vornehmen, liege kein schuldhaftes Zögern vor. Dies gelte auch, wenn der Arbeitgeber den Betriebsrat erst nach Abschluss des Verfahrens vor dem Integrationsamt beteilige. Die Kündigung müsse nicht sofort erklärt werden.

Entgegen der früheren Rechtsprechung finde § 174 Abs. 5 SGB IX nicht nur Anwendung, wenn der Arbeitgeber die Zustimmung des Integrationsamtes innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB beantragt habe. Vielmehr sei der Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB Anwendungsvoraussetzung von § 174 Abs. 5 SGB IX. Als Ersatz für die Einhaltung dieser Frist sei die Zwei-Wochen-Frist des § 174 Abs. 2 SGB IX konzipiert worden, die der Arbeitgeber einhalten müsse. Dem Problem, dass der Arbeitgeber zu lange zugewartet habe, sei durch § 174 Abs. 2 SGB IX abschließend Rechnung getragen. Die Einhaltung dieser Frist habe nur das Integrationsamt bzw. im Fall der Anfechtung das VG zu prüfen. Von der Rechtzeitigkeit sei aufgrund der eingetretenen Zustimmungsfiktion auszugehen.


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