Welche Rechte gelten im Spannungsfall?

30.10.2025, Redaktion Anwalt-Suchservice
Spannungsfall,Verteidigungsfall,Krieg,Bundeswehr,Wehrpflicht Im Spannungsfall treten viele Notfallgesetze in Kraft, die die Rechte von Bürgern einschränken. © - freepik

Die Möglichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen ist durch den Ukrainekrieg stärker ins Bewusstsein vieler Menschen gerückt. Im Spannungsfall können viele Bürgerrechte deutlich eingeschränkt werden.

Der Spannungsfall hat in letzter Zeit immer wieder für Schlagzeilen gesorgt. Mancher meint gar, dass nicht identifizierte Drohnen über Flughäfen oder Cyberattacken schon ein Grund sein könnten, ihn auszurufen. Allerdings hätte dies viele und häufig ungeahnte Folgen für Bürger und das tägliche Leben.

Was ist der Spannungsfall?


Der Spannungsfall ist die Vorstufe des Verteidigungsfalles. Er ist in Artikel 80a des Grundgesetzes geregelt. Wann er ausgerufen wird, ist gesetzlich nicht klar definiert. Im Staatsrecht geht man davon aus, dass der Spannungsfall in einer schweren außenpolitischen Konfliktsituation ausgerufen wird, welche mit großer bzw. erheblicher Wahrscheinlichkeit einen bewaffneten Angriff auf Deutschland zur Folge haben wird. Diese Definition ist jedoch nicht rechtlich bindend. Die Ausrufung des Spannungsfalles hat zur Folge, dass eine Reihe von gesetzlichen Ausnahmeregelungen in Kraft treten, welche die Rechte der Bürger einschränken bzw. dem Staat mehr Rechte geben.

Die Ausrufung des Spannungsfalles soll durch eine Reihe möglicher Maßnahmen die Verteidigungsfähigkeit steigern. Der eigentliche Verteidigungsfall wird erst ausgerufen, wenn ein Angriff tatsächlich stattfindet bzw. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. In diesem Fall treten weitere gesetzliche Ausnahmeregelungen in Kraft.

Während des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland ist es bisher noch nie zur Ausrufung des Spannungsfalles oder des Verteidigungsfalles gekommen.

Wer kann den Spannungsfall ausrufen?


Nach Art. 80a GG Absatz 1 des Grundgesetzes kann der deutsche Bundestag den Eintritt des Spannungsfalles feststellen. Dazu ist eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen erforderlich. Dies ist eine geringere Schwelle als die Mehrheit der Anzahl der Mitglieder des Bundestages.

Allerdings kann nach Art. 80a Absatz 3 des Grundgesetzes auch ein "internationales Organ im Rahmen eines Bündnisvertrages" mit Zustimmung der Bundesregierung den Spannungsfall ausrufen. Das bedeutet: Auch die NATO kann mit Zustimmung der Bundesregierung, die aus dem Bundeskanzler und den Bundesministerinnen und -ministern besteht, den Eintritt des Spannungsfalles feststellen. In diesem Fall hat jedoch der Bundestag die Möglichkeit, aufgrund des Spannungsfalles getroffene Maßnahmen wieder aufzuheben. Dies muss mit einfacher Mehrheit aller Mitglieder des Bundestages (nicht: der abgegebenen Stimmen) beschlossen werden.

Was passiert im Spannungsfall mit der Wehrpflicht?


Grundsätzlich gilt in Deutschland für alle Männer ab dem 18. Lebensjahr die Wehrpflicht. Diese wurde 2011 ausgesetzt. Das heißt: Sie gilt laut § 2 Wehrpflichtgesetz nur im Spannungs- oder Verteidigungsfall. Im Spannungsfall müssen daher alle männlichen deutschen Staatsbürger über 18, die keine Kriegsdienstverweigerer und auch nicht untauglich gemustert sind, mit ihrer Einberufung zur Bundeswehr rechnen. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 7 Wehrpflichtgesetz muss der Wehrdienst im Spannungs- oder Verteidigungsfall unbefristet geleistet werden. Genau dies ist einer der Zwecke des Spannungsfalles: die Mobilmachung.

Eine Änderung des bisherigen Wehrpflichtgesetzes mit einer Wiedereinführung der Wehrpflicht wird derzeit diskutiert.

Welche Gesetze treten im Spannungsfall in Kraft?


Außer dem Wehrpflichtgesetz können eine ganze Reihe von gesetzlichen Regelungen in Kraft gesetzt werden, sobald der Spannungsfall ausgerufen ist. Dies sind in erster Linie die sogenannten Sicherstellungsgesetze, deren Zweck die Bewältigung von Gefahrenlagen ist. Dazu gehören:

1. § 186 TKG Telekommunikationsbevorrechtigung
Im Spannungs- oder Verteidigungsfall treten die Regelungen der §§ 184 ff. Telekommunikationsgesetz in Kraft. Diese haben einen deutlich widersprüchlichen Inhalt: Auf der einen Seite sind Telekommunikationsanbieter mit mehr als 100.000 Kunden dazu verpflichtet, auch bei technischen Störungen ihre Netze und den Zugang ihrer Kunden zu Telefonie, Internet usw. aufrechtzuerhalten.

Andererseits gibt es sogenannte Telekommunikationsbevorrechtigte. Dazu gehören Behörden, Bundeswehr, Gerichte, Rettungsdienste, Aufgabenträger im Gesundheitswesen und Nutzer mit Sondererlaubnis, die lebens- und verteidigungswichtige Aufgaben zu erfüllen haben. Diese haben bevorrechtigten Zugang zu den Telekommunikationsnetzen, also zu Telefon und Internet.

Das heißt:

- Bei Störungen oder zerstörter Infrastruktur werden ihre Anschlüsse zuerst wieder instand gesetzt.
- Nach § 187 Abs. 3 TKG können alle nicht bevorrechtigten Verbindungen in ihrer Dauer und Datenübertragungsrate begrenzt werden, und zwar "im erforderlichen Umfang" und damit ggf. auch auf Null. Dies gilt nicht für die Notrufnummern 110 und 112.

2. Arbeitssicherstellungsgesetz
Mit diesem Gesetz kann der Staat sicherstellen, dass für wichtige Aufgaben immer genug Arbeitnehmer zur Verfügung stehen. Zwar gilt das Grundrecht der freien Wahl des Arbeitsplatzes auch im Spannungsfall. Es gilt aber nur, solange für Zwecke der Verteidigung und den Schutz der Zivilbevölkerung genug Arbeitskräfte zur Verfügung stehen. Ist dies nicht der Fall, darf der Staat

- das Recht zur Beendigung von Arbeitsverhältnissen einschränken,
- Wehrpflichtige in ein Arbeitsverhältnis verpflichten (etwa in der Rüstungsindustrie oder beim Bau von Verteidigungsanlagen),
- Frauen in ein Arbeitsverhältnis im zivilen Sanitäts- oder Heilwesen sowie in der ortsfesten militärischen Lazarettorganisation verpflichten.

Dies gilt für Personen vom vollendeten 18. Lebensjahr bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze.

3. Verkehrssicherstellungsgesetz
Dieses Gesetz soll sicherstellen, dass die für Zwecke der Verteidigung erforderlichen lebenswichtigen Verkehrsleistungen, insbesondere zur Versorgung der Zivilbevölkerung und der Streitkräfte, sichergestellt sind.

Es erlaubt der Bundesregierung oder einzelnen Ministerien zum Beispiel, durch Rechtsverordnung die im Normalfall bestehenden Regelungen für den Straßenbau und den Verkehr inklusive Straßenverkehr, Luftfahrt, ÖPNV und Eisenbahn in weiten Teilen außer Kraft zu setzen und abweichend zu regeln.

Dazu können zum Beispiel gehören:

- Straßensperrungen für den zivilen Verkehr,
- Einrichtung von Sperrgebieten,
- Beschlagnahme von Eisenbahnen oder Infrastruktur,
- Priorisierung verteidigungswichtiger Beförderungen vor normalem Geschäft,
- Zuteilung freier Transportmittel für verteidigungsrelevante Aufgaben,
- Priorisierung von verteidigungswichtigen Verkehrswegen bei Instandsetzung und Reparatur.
- Verpflichtung von Unternehmen zur Bevorratung mit Baustoffen, Ersatzteilen etc.

Das Gesetz bezieht sich sehr allgemein auf "Verkehrsmittel". Darunter kann alles fallen, vom Pferd bis zum privaten Auto, vom Flugzeug bis zum Zug.

Nach § 2 Abs. 2 des Gesetzes sind die Rechtsverordnungen auf das unerlässliche Maß zu beschränken. Sie müssen verhältnismäßig bleiben. Werden Leistungen angeordnet oder Verkehrsmittel beschlagnahmt, sind Entschädigungen vorgesehen.

4. Wirtschaftssicherstellungsgesetz
Auch genannt: Gesetz über die Sicherstellung von Leistungen auf dem Gebiet der gewerblichen Wirtschaft sowie des Geld- und Kapitalverkehrs.

Dieses Gesetz soll im Krisenfall die Versorgung der Bevölkerung und der Streitkräfte mit Gütern und Leistungen sicherstellen. Es erlaubt den Erlass von Rechtsverordnungen, die Vorgaben für praktisch jeden Wirtschaftsbetrieb treffen, von Produktion und Handwerk über die Energieerzeugung bis zur Finanzwirtschaft. Einzelheiten zu den möglichen Vorgaben enthält es nicht. Es erlaubt eine vorübergehende Schließung von Kreditinstituten und Wertpapierbörsen. Im Falle von Enteignungen sieht es eine Entschädigung vor.

5. Verordnung zur Sicherstellung des Straßenverkehrs
Diese Verordnung gibt u. a. Verbänden von Militärfahrzeugen ein Vorfahrtsrecht. Sie macht jedoch auch Fahrten mit privaten PKW und Krafträdern erlaubnispflichtig. Erlaubnisfrei sind lediglich Fahrten zu gewerblichen, beruflichen, schulischen oder sonstigen der Ausbildung dienenden Zwecken innerhalb des Landkreises, des Stadtkreises oder der kreisfreien Stadt, in welcher das Fahrzeug zugelassen ist. Die Verordnung enthält auch Regelungen zur Erlaubnis für Fahrten mit LKW und Nutzfahrzeugen.

6. Mineralölbewirtschaftungs-Verordnung
Diese Verordnung erlaubt es der Bundesregierung, Mineralölunternehmen vorzuschreiben, was sie mit ihren Produkten anfangen sollen. Hier könnte zum Beispiel per Rechtsverordnung angeordnet werden, dass die Versorgung militärischer Fahrzeuge Vorrang vor derjenigen des zivilen Verkehrs hat.

Weitere Vorschriften, die der Bundestag im Spannungsfall aktivieren könnte, sind:

- Zivilschutz- und Katastrophenhilfegesetz,
- Verordnung zur Sicherstellung des Seeverkehrs (SeeVerkSiV),
- Verordnung über die Sicherstellung der Elektrizitätsversorgung (EltLastV),
- Verordnung zur Sicherstellung des Eisenbahnverkehrs (EBSiV),
- Verordnung zur Sicherstellung des Luftverkehrs (LuftVerkSiV).

Darf der Staat im Spannungsfall mein Eigentum beschlagnahmen?


Zur Abwendung einer drohenden Gefahr für den Bestand des Bundes oder für Zwecke der Verteidigung kann auch das Bundesleistungsgesetz zum Einsatz kommen. Einige Quellen ordnen es eher dem Verteidigungsfall als dem Spannungsfall zu.

Dieses Gesetz erlaubt es der Bundeswehr, die Überlassung von Gegenständen, Fahrzeugen oder Werkleistungen von jedermann zu verlangen, wenn dies für ihre Zwecke erforderlich ist. Sie könnte also zum Beispiel die Überlassung eines Radladers von einem Bauunternehmen oder eines LKW von einer Spedition verlangen.

Die Beschlagnahme von Kraftfahrzeugen oder privaten Waffen ist zum Beispiel nur im Verteidigungsfall zulässig oder wenn die Bundesregierung festgestellt hat, dass dies zur beschleunigten Herstellung der Verteidigungsbereitschaft der Bundesrepublik notwendig ist.

Es gibt verschiedene Einschränkungen. So dürfen Fertigungs- oder Reparaturbetriebe nur in Anspruch genommen werden, wenn dies unumgänglich ist. Wohnräume, die für den unentbehrlichen Wohnbedarf des Besitzers und der zu seinem Hausstand gehörenden Personen erforderlich sind, dürfen nur angefordert werden, wenn ausreichende anderweitige Unterbringung gesichert ist. Eine solche Anforderung könnte zum Beispiel mit der Unterbringung von Soldaten zusammenhängen.

Die überlassenen Gegenstände werden zwar nicht Eigentum der Bundeswehr; sie dürfen von dieser aber genutzt und verändert werden (zum Beispiel durch einen Tarnanstrich). Auch dieses Gesetz sieht Entschädigungsregelungen vor.

Was passiert mit den Grundrechten im Spannungsfall?


Es gibt zwar keine generelle Grundrechtseinschränkung speziell für den Spannungsfall. Die einzelnen genannten Gesetze enthalten aber eine Vielzahl von Einschränkungen einzelner Grundrechte. So wird zum Beispiel durch das Arbeitssicherstellungsgesetz die Berufsfreiheit aus Art. 12 Grundgesetz eingeschränkt. Regelungen über mögliche Enteignungen etwa von Eisenbahnzügen greifen in das Grundrecht am Eigentum ein, Art. 14 GG. Zulässig sind Enteignungen jedoch auch im Spannungsfall nur durch ein Gesetz, das eine Entschädigung vorsieht.

Im Prinzip gibt es die Möglichkeit, dass zum Beispiel die Versammlungsfreiheit im Spannungsfall durch eine gesetzliche Regelung im Versammlungsgesetz eingeschränkt wird. Im aktuellen Versammlungsgesetz findet sich jedoch keine derartige Regelung. Unabhängig von einem Spannungsfall können die örtlichen Behörden eine Versammlung oder Demonstration untersagen, wenn dadurch die öffentliche Sicherheit oder Ordnung unmittelbar gefährdet ist.

Praxistipp zum Spannungsfall


Auch im Spannungsfall sind Bürger nicht rechtlos. Einschränkungen von Grundrechten erfordern eine klare gesetzliche Grundlage. Oft können Entschädigungsansprüche bestehen. Derzeit ist eine Ausrufung des Spannungsfalles jedoch unwahrscheinlich. Für alle Fragen zu Maßnahmen von Staat und Behörden auch außerhalb des Spannungsfalles ist ein Fachanwalt für Verwaltungsrecht der richtige Ansprechpartner.

(Bu)


 Stephan Buch
Anwalt-Suchservice
Juristische Redaktion
E-Mail schreiben Juristische Redaktion