BAG, Urt. 27.8.2020 - 8 AZR 62/19

Kopftuchverbot im Schuldienst nur bei Gefahr für Schulfrieden oder staatliche Neutralität

Autor: RAin FAinArbR Dr. Cornelia Marquardt, maat Rechtsanwälte, München
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 04/2021
Eine Regelung, die Lehrkräften in öffentlichen Schulen das Tragen religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidungsstücke einschließlich des islamischen Kopftuchs verbietet (hier: § 2 Berliner NeutrG), ist verfassungskonform so auszulegen, dass das Verbot nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität gilt.

Berliner NeutrG §§ 2 ff.; EMRK Art. 9; RL 2000/78/EG; AGG §§ 7, 8, 15 Abs. 2

Das Problem

Die Parteien streiten darüber, ob das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen religionsbezogener Benachteiligung verpflichtet ist.

Die muslimische Klägerin trägt als Ausdruck ihres Glaubens ein Kopftuch. Im Anschluss an ein Bewerbungsgespräch für eine Stelle als Lehrerin, bei dem sie das Kopftuch trug, wurde sie auf das Berliner Neutralitätsgesetz angesprochen, das Lehrkräften in öffentlichen Schulen grds. u.a. das Tragen sichtbarer religiöser Symbole verbietet. Sie erklärte, das Kopftuch auch im Unterricht tragen zu wollen.

Nachdem die Klägerin weder eine Zu- noch eine Absage erhalten hatte, machte sie zunächst außergerichtlich und mangels Antwort schließlich gerichtlich eine Entschädigungszahlung nach § 15 Abs. 2 AGG von nicht unter drei auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren Bruttomonatsgehältern geltend. Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das LAG hat das beklagte Land zur Zahlung einer Entschädigung i.H.v. 5.159,88 € verurteilt. Im Revisionsverfahren verfolgt das beklagte Land die Klageabweisung weiter; die Klägerin verlangt mittels Anschlussrevision eine höhere Entschädigung.

Die Entscheidung des Gerichts

Das BAG hält Revision und Anschlussrevision für unbegründet, da die Klägerin durch die Nichtberücksichtigung im Auswahlverfahren zwar unzulässig wegen ihrer Religion benachteiligt worden, die ihr zugesprochene Entschädigung revisionsrechtlich jedoch nicht zu beanstanden ist.

Soweit es – wie hier – um eine unmittelbare Benachteiligung i.S.v. § 3 Abs. 1 AGG gehe, müsse der betreffende Grund i.S.v. § 1 AGG nicht das ausschließliche oder wesentliche Motiv für das Handeln sein; ein Kausalzusammenhang sei bereits gegeben, wenn die Benachteiligung an einen Grund i.S.v. § 1 AGG anknüpfe oder durch diesen mitursächlich motiviert sei.

Beweise eine Partei Indizien, die eine solche Benachteiligung vermuten lassen, trage aufgrund der Darlegungs- und Beweiserleichterungen des § 22 AGG die andere Partei die Beweislast, dass kein Verstoß gegen ein Diskriminierungsverbot vorgelegen habe. Dabei sei die Würdigung der Tatsachengerichte eingeschränkt nur darauf revisibel, ob sie möglich sowie in sich widerspruchsfrei sei und nicht gegen Rechtssätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoße. Aufgrund des Gesprächs über die Bereitschaft der Klägerin, das Kopftuch im Unterricht abzulegen, habe vermutet werden dürfen, dass die fehlende Berücksichtigung im Bewerbungsverfahren eine religiöse Benachteiligung der Klägerin darstelle.

Die Benachteiligung sei vorliegend nicht nach § 8 Abs. 1 AGG zulässig. Dieser erlaube zwar grds. eine unterschiedliche Behandlung, wenn wegen der Art der auszuübenden Tätigkeit oder ihrer Ausübungsbedingungen eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung bestehe, von der die ordnungsgemäße Durchführung der Tätigkeit abhänge. Aber die in § 2 Berliner NeutrG enthaltene berufliche Anforderung sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass das Tragen religiöser Kleidungsstücke nur untersagt sei, wenn hiervon eine hinreichend konkrete Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität ausgehe, wofür das beklagte Land nichts vorgetragen habe. Diese Einschränkung folge aus der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 27.1.2015 – 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10 Rz. 83, BVerfGE 138, 296 = ArbRB 2015, 100 [Groeger]).

Die vom LAG zugesprochene Entschädigung von etwa 1,5 Bruttomonatsgehältern sei zugleich erforderlich und hinreichend abschreckend und damit ausreichend.


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