BAG, Vorlagebeschl. 27.1.2022 - 6 AZR 155/21 (A)

EuGH-Vorlage zu den Folgen eines Verstoßes gegen die Mitteilungspflicht bei Massenentlassungen

Autor: RA FAArbR Axel Braun, Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, Köln
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 05/2022
Nach § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG müssen Arbeitgeber bei Massenentlassungen der Agentur für Arbeit eine Abschrift der zweckdienlichen Mindestauskünfte an den Betriebsrat zuleiten. Der Sechste BAG-Senat fragt beim EuGH an, ob Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG, der § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG zugrunde liegt, dem individuellen Schutz von Arbeitnehmern dient, um zu entscheiden, ob ein Verstoß gegen die Mitteilungspflicht zur Unwirksamkeit der im Zuge der Massenentlassung ausgesprochenen Kündigungen führt.

KSchG § 17 Abs. 3 Satz 1; RL 98/59/EG (Massenentlassungs-Richtlinie, MERL) Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2; BGB § 134

Das Problem

Der Beklagte ist der Insolvenzverwalter über das Vermögen der Arbeitgeberin, bei der der Kläger seit 1981 angestellt ist. Anfang 2020 wird die Einstellung des Geschäftsbetriebs beschlossen. Infolgedessen sollen 195 Arbeitnehmer entlassen werden.

Während der Verhandlungen mit dem Betriebsrat über einen Interessenausgleich und Sozialplan wird zwar das Konsultationsverfahren gem. § 17 Abs. 2 KSchG durchgeführt; entgegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG wird der zuständigen Agentur für Arbeit aber keine Abschrift der dem Betriebsrat übermittelten Auskünfte zugeleitet; gleichwohl wird eine Massenentlassungsanzeige erstattet.

Die Beklagte kündigt in der Folge sämtliche Arbeitsverhältnisse, woraufhin der Kläger Kündigungsschutzklage erhebt. Die Vorinstanzen weisen die Klage ab.

Die Entscheidung des Gerichts

Der Sechste BAG-Senat setzt den Rechtsstreit aus und legt dem EuGH mehrere Fragen vor, insbesondere zum Zweck von Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 RL 98/59/EG, der mit § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG in deutsches Recht umgesetzt worden ist.

Die Richtlinie bestimme nicht selbst Sanktionen bei Verstößen gegen ihre Regelungen, weshalb die Art der Sanktionierung in den Grenzen des Äquivalenz- und des Effektivitätsgrundsatzes den Mitgliedstaaten obliege. Leite der Arbeitgeber die Mitteilung an den Betriebsrat nach § 17 Abs. 2 KSchG nicht der zuständigen Agentur für Arbeit zu, könne dies zur Nichtigkeit der damit zusammenhängenden Kündigungen gem. § 134 BGB führen. Voraussetzung dafür sei, dass § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG zumindest auch – so wie andere Vorschriften des Massenentlassungsrechts – den individuellen Schutz der Arbeitnehmer bezwecke. Bestehe derselbe Schutzmaßstab, erfordere der Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz dieselbe Sanktion. Der Charakter einer Vorschrift als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB müsse sich dabei nicht unmittelbar aus ihrem Wortlaut ergeben, sondern könne auch aus dem Sinn und Zweck der verletzten Vorschrift folgen.


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