BGH, Beschl. 14.11.2018 - XII ZB 292/16

Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen?

Autor: RiAG Alexander Erbarth, Greiz
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 02/2019
Es wird eine Entscheidung des BVerfG zu der Frage eingeholt, ob Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB in der Fassung des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen v. 17.7.2017 (BGBl. I, 2429) mit Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG vereinbar ist, soweit eine unter Beteiligung eines nach ausländischem Recht ehemündigen Minderjährigen geschlossene Ehe nach deutschem Recht – vorbehaltlich der Ausnahmen in der Übergangsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB – ohne einzelfallbezogene Prüfung als Nichtehe qualifiziert wird, wenn der Minderjährige im Zeitpunkt der Eheschließung das 16. Lebensjahr nicht vollendet hatte.

BGH, Beschl. v. 14.11.2018 - XII ZB 292/16

Vorinstanz: OLG Bamberg, Beschl. v. 12.5.2016 - 2 UF 58/16

EMRK Art. 8; UN-KRK Art. 3 Abs. 1, Art. 12; Brüssel IIa-VO Art. 1 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 lit. a, Art. 8 Abs. 1, Art. 61 lit. a; KSÜ Art. 6, Art. 15 Abs. 1, GG Art. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 100 Abs. 1 S. 1; FamFG § 58 Abs. 1, § 59 Abs. 1, § 60 S. 2, § 72 Abs. 2, § 151 Nr. 1; EGBGB Art. 6, Art. 13 Abs. 3 Nr. 1, Art. 229 § 44 Abs. 4; BGB § 1303 S. 1, S. 2, § 1303 a.F., § 1353 Abs. 1 S. 2, § 1631 Abs. 1, § 1632 Abs. 4, § 1633 a.F., § 1666, § 1800, § 1800 a.F.; StGB § 182 Abs. 3

Das Problem

Ist die Entscheidung des AG Kassel vom 7.3.2018 (AG Kassel v. 7.3.2018 – 524 F 3451/17 E1, FamRZ 2018, 1149 m. Anm. Dutta = FamRB 2018, 338 ff.) paradigmatisch für die praktische Untauglichkeit und materiell- wie verfahrensrechtliche Fragwürdigkeit der generellen und rigorosen Klassifizierung im Ausland nach ausländischem Recht wirksam geschlossener Minderjährigenehen unter Beteiligung eines noch nicht 16 Jahre alten Eheschließenden nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB als absolute Nichtehen (matrimonium non existens) im Inland, führt sie doch der gesetzgeberischen Intention (BT-Drucks. 18/12086, 14 f. unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die vorinstanzliche Entscheidung des OLG Bamberg) diametral entgegen keine eindeutige Rechtslage herbei, sondern gerade eine unerträgliche Rechtsunsicherheit darüber, ob eine wirksame Ehe oder eine Nichtehe vorliegt (ausf. Erbarth, FamRB 2018, 338 ff.). So führt der Beschluss des BGH bei einer Kindschaftssache mustergültig die Unvereinbarkeit der Vorschrift mit Art. 6 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 2 Abs. 1 GG vor Augen. Die Frage der Wirksamkeit der Ehe war also kollisionsrechtliche Vorfrage. Insbesondere der Verstoß des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB gegen Art. 6 Abs. 1 GG wegen Behinderung und Vorenthaltung des räumlichen Zusammenlebens der Ehegatten ist in der Literatur von Beginn an benannt worden (Coester, FamRZ 2017, 77, 79; Coester-Waltjen, IPrax 2017, 429, 435; Hüßtege, FamRZ 2017, 1374, 1377; BeckOGK BGB/Erbarth, Stand: 1.10.2018, § 1353 Rz. 140). Ist Art. 6 Abs. 1 GG doch ungeachtet seiner Fassung als objektiv-rechtliches Schutzgebot Grundlage für grundrechtliche Schutz- und Abwehransprüche Einzelner, die sich als Ehegatten oder Familienangehörige auf die grundrechtliche Garantie berufen können (BVerfGE 6, 386, 688). Der Berechtigte verfügt kraft des als Abwehrrecht wirkenden Grundrechts über einen durch einen konkreten, gegen Art. 6 Abs. 1 GG verstoßenden Eingriff der öffentlichen Gewalt ausgelösten Unterlassungsanspruch, den er vor den Gerichten und nach Maßgabe des § 90 BVerfGG ausnahmsweise durch Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz geltend machen kann (Badura in Maunz/Dürig, GG, Art. 6 Rz. 10). Um eine solche handelt es sich hier freilich nicht, kein Ehegatte hat den ihm zustehenden Unterlassungsanspruch geltend gemacht. Vielmehr hat der BGH das Verfahren wegen einer konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und eine Entscheidung des BVerfG zu der Frage eingeholt, ob Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB mit Art. 6 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1GG vereinbar ist.

Die Entscheidung des Gerichts

Das Verfahren hat die Rechtsbeschwerde des Vormunds der minderjährigen Ehefrau gegen die noch nach altem Recht ergangene Entscheidung des OLG Bamberg v. 12.5.2016 – 2 UF 58/16, FamRZ 2016, 1270 = FamRB 2016, 375 zum Gegenstand – also diejenige „Kinderehen-Entscheidung”, die Anlass der gesetzlichen Neuregelung war. Der BGH sieht die Rechtsbeschwerde als statthaft, weil das OLG sie in der angefochtenen Entscheidung zugelassen hat (§ 70 Abs. 1 FamFG), sowie als zulässig an. Er hebt hiernach – wegen des Erfordernisses der Entscheidungserheblichkeit des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 GG – hervor, die Rechtsbeschwerde sei ohne Geltung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB unbegründet, hingegen bei Anwendbarkeit der Vorschrift begründet.

Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte sei unbeschadet des Wortlauts des § 72 Abs. 2 FamFG auch in Verfahren nach dem FamFG in der Rechtsbeschwerdeinstanz von Amts wegen zu prüfen. Der Senat bejaht sie nach Art. 1 Abs. 1 lit. b, Abs. 2 lit. a, Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO und führt aus, dass die nach Art. 6 KSÜ ebenfalls gegebene internationale Zuständigkeit nach Art. 61 lit. a Brüssel IIa-VO nachrangig ist (s. dazu Rauscher/Rauscher, EuZPR/EuIPR, 4. Aufl. 2015, Art. 61 Brüssel IIa-VO Rz. 4 ff., 9 ff.).

Nach Art. 15 Abs. 1 KSÜ ist auf die Kindschaftssache deutsches Recht anzuwenden. Zutreffend legt der Senat den Verfahrensantrag des Ehemannes, die Inobhutnahme seiner Ehefrau zu überprüfen und diese zur Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft zu ihm zurückzuführen – entgegen der Ansicht des AG und des OLG – nicht als einen Antrag auf Regelung des Umgangs des Ehemannes mit der Ehefrau aus, sondern als einen Rückführungsantrag entsprechend § 1632 Abs. 4 BGB.

Danach wäre die Rechtsbeschwerde ohne Geltung des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB unbegründet. Trotz Aufhebung des § 1633 BGB mit Wirkung zum 22.7.2017 mit der Folge, dass jetzt auch bezüglich eines verheirateten Minderjährigen das volle Sorgerecht der Eltern bzw. des Vormunds besteht (§§ 1631 u. 1632, 1800 BGB), scheitere eine Trennung des Minderjährigen von seinem Ehegatten, die weder die Wirksamkeit der Ehe noch das Kindeswohl berücksichtige, an der Widerrechtlichkeit des Vorenthaltens des Ehegatten. Die selbstständig anzuknüpfende Vorfrage, ob der Minderjährige eine wirksame Ehe eingegangen sei, beurteile sich gem. Art. 11, Art. 13 Abs. 1 EGBGB nach syrischem Recht und sei nach den nicht angegriffenen Feststellungen des OLG zu bejahen. Einen Verstoß gegen den ordre public (Art. 6 EGBGB) verneint der Senat. Die zum alten Recht höchst unterschiedlich beurteilte Frage eines generellen Mindestalters für die Eheschließung lässt er ausdrücklich offen: Schließlich gehöre zu den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts bei der Eheschließung Minderjähriger keine generelle Altersgrenze, sondern die Beachtung des Kindeswohls in jedem Einzelfall. Auch setzten weder Art. 8 EMRK noch die UN-KRK ein Mindestalter für die Eheschließung fest.

Die Rechtsbeschwerde wäre demgegenüber begründet, wendete man Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB an. Der Senat sieht in der Vorschrift mit der überwiegenden Ansicht (s. nur BeckOGK BGB/Rentsch, Stand: 1.8.2018, Art. 13 EGBGB Rz. 59) eine spezielle Regelung des ordre public, die Art. 6 EGBGB vorgeht. Im Wege ausführlicher Auslegung gelangt er zu dem Ergebnis, dass Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB so zu verstehen ist, dass nach ausländischem Recht geschlossene Ehen stets unwirksam sind, wenn ein Ehepartner bei Eheschließung des 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.

Der BGH sieht die neue Regelung insofern mit Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG als unvereinbar an, soweit sie die Wirksamkeit der Ehe nach deutschem Recht ohne Rücksicht auf den konkreten Fall versagt. Einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG sieht der Senat in der Behinderung bzw. Vorenthaltung des räumlichen Zusammenlebens der Ehegatten ohne Vorliegen zwingender sachlicher Gründe und außerdem in dem aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Vertrauensschutz, weil die Vorschrift vor dem 22.7.2017 nach ausländischem Recht wirksam geschlossene Ehen als unwirksam und nicht mehr, wie nach bisherigem Recht, als aufhebbar angesehen habe. Einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG bejaht der Senat wegen der Ungleichbehandlung im Ausland und in Deutschland geschlossener Ehen: So ist eine nach deutschem Recht vor dem 22.7.2017 unter Verstoß gegen die Ehemündigkeit geschlossene Ehe nach Art. 229 § 44 Abs. 1 EGBGB nach wie vor wirksam, wenngleich aufhebbar, eine nach ausländischem Recht geschlossene Ehe demgegenüber nach Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB i.V.m. Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB unwirksam, wenn der minderjährige Ehegatte nicht vor dem 22.7.1999 geboren wurde und die Ehegatten vor der Volljährigkeit dieses Ehegatten ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland genommen haben. Außerdem verstößt nach Ansicht des Senats die neue Vorschrift gegen den nach Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen Schutz des Kindeswohls. Dieser gebiete eine konkrete Prüfung des Wohls des betroffenen Kindes im Einzelfall, die die Vorschrift durch ihre Qualifizierung als Nichtehe ohne Wertungsmöglichkeit ausschließe.


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