BGH, Beschl. 22.7.2020 - XII ZB 131/20

Aufhebbarkeit einer Minderjährigenehe

Autor: Dr. Rainer Kemper, Hochschule Osnabrück, Lingen
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 06/2021
a) Die Aufhebbarkeit einer Auslandsehe, die mit einem Ehegatten geschlossen worden ist, der bei Eheschließung zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, richtet sich nach §§ 1313 ff. BGB in der aktuell geltenden Fassung. Die Überleitungsvorschriften der Art. 229 § 44 Abs. 1 und 2 EGBGB sind auf solche Ehen nicht – auch nicht entsprechend – anzuwenden.b) Ob einer der von § 1316 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 BGB genannten Gesetzesverstöße vorliegt, bei denen die zuständige Verwaltungsbehörde berechtigt ist, einen Antrag auf Eheaufhebung zu stellen, ist keine Frage der Antragsberechtigung, sondern eine der Begründetheit des Antrags (Abgrenzung zu BGH v. 11.4.2012 – XII ZR 99/10, FamRZ 2012, 940 = FamRB 2012, 265).c) Für die Bestätigung der Ehe ist zwar die positive Kenntnis des Ehegatten von ihrer Aufhebbarkeit nicht erforderlich. Er muss aber die den Ehemangel begründenden Tatsachen kennen und wenigstens ein allgemeines Bewusstsein davon haben, dass er die Ehe wegen des Eingehungsmangels zur Auflösung bringen kann oder dass Zweifel an ihrer Gültigkeit bestehen und er durch sein Verhalten ein möglicherweise vorhandenes Aufhebungsrecht aufgibt.d) Die Norm des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB räumt dem Richter für die Frage, ob die Ehe bei Vorliegen des Aufhebungsgrundes aufzuheben ist, ein eingeschränktes Ermessen ein. Fehlt in diesen Fällen ein Ausschlussgrund gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 BGB, kann von einer Eheaufhebung ausnahmsweise dann abgesehen werden, wenn feststeht, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten ist, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprechen.

GG Art. 1, Art. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1; BGB § 1303, § 1314 Abs. 1, § 1315 Abs. 1, § 1316; EGBGB Art. 13 Abs. 1, Abs. 3, Art. 229 § 44

Das Problem

Der Antragsteller begehrt als zuständige Verwaltungsbehörde die Aufhebung der im September 2001 im Libanon geschlossenen Ehe der Antragsgegner.

Zum Zeitpunkt der Eheschließung waren die Antragsgegner libanesische Staatsangehörige moslemischen Glaubens. Der Antragsgegner war 21 Jahre, die Antragsgegnerin 16 Jahre alt. Sie lebte damals bereits in Deutschland und erwarb im Jahre 2002 die deutsche Staatsangehörigkeit. Im August 2002 folgte der Antragsgegner seiner Ehefrau nach Deutschland, wo die Ehegatten von April 2003 bis Juni 2016 zusammenlebten und vier Kinder (geboren 2005, 2008, 2009 und 2013) bekamen. Seit der Trennung der Ehegatten leben die vier Kinder im Haushalt der Mutter, die einen neuen Lebensgefährten hat. Die Eheleute sind inzwischen nach islamischem Recht geschieden.

Nachdem die Antragsgegnerin anlässlich einer standesamtlichen Beurkundung auf Nachfrage der Standesbeamtin mitgeteilt hatte, die Ehe nicht fortsetzen zu wollen, hat der Antragsteller beim Amtsgericht beantragt, die Ehe aufzuheben, weil die Antragsgegnerin bei Eheschließung minderjährig gewesen sei. Das Amtsgericht hat den Antrag zurückgewiesen, weil die Aufhebbarkeit der vor dem 22.7.2017 geschlossenen Ehe sich nach dem bis dahin geltenden Recht richte und ein bis zu diesem Zeitpunkt geregelter Eheaufhebungsgrund nicht vorliege. Auch bei Anwendbarkeit des aktuellen Rechts scheide eine Eheaufhebung aus, weil die Antragsgegnerin durch das Zusammenziehen mit ihrem Mann und die Begründung einer mehrköpfigen Familie zu erkennen gegeben habe, dass sie die Ehe fortsetzen wolle.

Die Beschwerde des Antragstellers ist ohne Erfolg geblieben. Das KG hat sie mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass der Antrag „als unzulässig zurückgewiesen“ wird. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Antragsstellers, der seinen Eheaufhebungsantrag weiterverfolgt.

Die Entscheidung des Gerichts

Auch die Rechtsbeschwerde bleibt ohne Erfolg. Der BGH sieht den auf Eheaufhebung gerichteten Antrag als unbegründet an.

Das KG habe zu Recht angenommen, dass die Eheschließung im Libanon aus deutscher Sicht zu einer wirksamen Ehe geführt habe. Die Ehe sei nicht nichtig, sondern nur aufhebbar. Das ergebe sich aus Art. 11, Art. 13 EGBGB. Danach richteten sich die materiellen Voraussetzungen der Eheschließung nach libanesischem Recht, weil beide Ehegatten bei Eheschließung im Libanon libanesische Staatsangehörige gewesen seien und das libanesische Recht keine Rückverweisung ausspreche. Die Ortsform sei eingehalten worden.

Die Frage der Aufhebbarkeit der Ehe der Antragsgegner richte sich nach §§ 1313 ff. BGB in der aktuell geltenden Fassung. Das ergebe sich aus Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB, der bestimme, dass die Ehe nach dem – dann in jedem Fall anwendbaren – deutschen Recht aufhebbar sei, wenn der Verlobte in diesem Zeitpunkt zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet habe. Die Vorschrift des Übergangsrechts, Art. 229 § 44 Abs. 1 EGBGB, sei dagegen weder direkt noch analog anwendbar. Diese Norm bestimme zwar, dass § 1303 Satz 2 BGB in der ab dem 22.7.2017 geltenden Fassung für Ehen, die vor diesem Datum geschlossen worden seien, nicht anzuwenden sei und die Aufhebbarkeit dieser Ehen sich nach dem bis dahin geltenden Recht richte. Bereits aus dem Wortlaut ergebe sich eindeutig, dass die Regelung sich nur auf inländische Ehen i.S.d. § 1303 Satz 2 BGB beziehe. Der Gesetzgeber habe insoweit allein eine Regelung für nach deutschem Recht geschlossene Ehen schaffen wollen. Aus dem gleichen Grund sei die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB nicht anwendbar. Die analoge Anwendung des Art. 229 § 44 EGBGB auf Auslandsehen komme ebenfalls nicht in Betracht, da keine planwidrige Regelungslücke bestehe und auch die Interessenlage völlig anders sei.

Da auch keine Bestätigung der Ehe (§ 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a, § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB) durch die Ehefrau nach ihrer Volljährigkeit vorliege, sei die Ehe grundsätzlich aufhebbar. Eine Wertung des langjährigen Zusammenlebens nach der Volljährigkeit als Bestätigung der Ehe durch die Antragsgegnerin komme nicht in Betracht, denn die Antragsgegnerin habe keinerlei Problembewusstsein gehabt, so dass dem Zusammenleben ein entsprechender Erklärungswert nicht beigemessen werden könne.

Trotz Verstoßes gegen das Ehemündigkeitsalter und damit des Vorliegens eines Aufhebungsgrundes i.S.d. § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB führe das dem Gericht im Rahmen dieser Norm eingeräumte Ermessen im vorliegenden Fall aber dazu, dass die Ehe der Antragsgegner nicht aufzuheben sei. Entgegen der bislang herrschenden Meinung leitet der BGH aus der Formulierung „kann aufgehoben werden“ in § 1314 Abs. 1 BGB ab, dass dem Gericht in einem auf diese Norm gestützten Aufhebungsverfahren ein Ermessen zusteht, ob die Minderjährigenehe aufgehoben wird oder nicht. Dieses Ergebnis werde durch eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift bestätigt, denn die Verneinung eines gerichtlichen Ermessens in den Fällen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB führe zur Verfassungswidrigkeit der Norm:

Das folge bereits daraus, dass Ehen, die Personen im Alter von 16 oder 17 Jahren nach ausländischem Recht vor dem 22.7.2017 geschlossen hätten – anders als Ehen nach deutschem Recht – selbst dann stets aufzuheben wären, wenn ein § 1303 Abs. 2 BGB a.F. gleichwertiger Dispens eines ausländischen Familiengerichts erteilt worden wäre. Für die hierin liegende Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG sei eine Rechtfertigung nicht ersichtlich.

Ebenfalls nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG sei vereinbar, dass zwischen 16 und 18 Jahren geschlossene Auslandsehen rechtlich anders behandelt würden als Auslandsehen i.S.d. Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB, bei denen der im Zeitpunkt der Eheschließung minderjährige Ehegatte das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet gehabt hätte. Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB sehe für solche Ehen die Anwendbarkeit des früher geltenden Rechts und damit allein eine Ordre-public-Prüfung nach Art. 6 EGBGB vor, wenn der Minderjährige vor dem 22.7.1999 geboren worden sei und damit bei Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen das 18. Lebensjahr bereits vollendet gehabt hätte oder wenn die nach ausländischem Recht wirksame Ehe bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten geführt worden sei und bis dahin kein Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt hätte. Eine vergleichbare Vorschrift fehle für Ehen von mindestens 16 Jahre alten Minderjährigen. Dies führe zu dem in sich nicht stimmigen Ergebnis, dass die von älteren Minderjährigen geschlossenen Auslandsehen nach deutschem Recht teilweise geringeren Bestandsschutz genössen als diejenigen jüngerer Minderjähriger.

Die Annahme einer zwingenden Eheaufhebung unter Ausschluss eines gerichtlichen Ermessens wäre zudem unvereinbar mit dem von Art. 2 GG i.V.m. Art. 1 GG gebotenen Schutz des Kindeswohls. Dieses gebiete eine konkrete Prüfung des Wohls des betroffenen Kindes im Einzelfall. Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen werde eine gesetzliche Regelung, die eine Berücksichtigung der Einzelfallumstände nur in dem von der Härtefallprüfung des § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB vorgegebenen, äußerst verengten Rahmen erlaube, nicht gerecht.

Schließlich verstieße eine Auslegung, nach der § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB dem Gericht bei Vorliegen des Eheaufhebungsgrunds kein Ermessen gewähre, auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG unter dem Gesichtspunkt des aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Vertrauensschutzes. Mit einer Regelung, wonach eine vor dem 22.7.2017 von einem 16, aber noch nicht 18 Jahre alten Minderjährigen geschlossene Auslandsehe aufgrund des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen nunmehr – außer in den Fällen des § 1315 Abs. 1 Satz 1 BGB – nach Einreise nach Deutschland zwingend aufzuheben ist, wäre eine sog. unechte Rückwirkung verbunden. Rechtfertigende Gründe für eine solche Bestimmung seien nicht erkennbar, wie auch der Umstand zeige, dass der Gesetzgeber für mit richterlicher Befreiung nach deutschem Recht geschlossene Ehen in Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB eine andere Regelung getroffen habe.


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