BGH, Beschl. 9.6.2021 - XII ZB 416/19

Anerkennung ausländischer Unterhaltsentscheidung nach HUÜ 2007; Wahrung der Verteidigungsrechte

Autor: VPrLG a.D. Martin Streicher, Walddorfhäslach
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 11/2021
1. Nach Art. 22 lit. e Nr. i HUÜ 2007 ist nicht auf die formal ordnungsgemäße Zustellung der Benachrichtigung vom Verfahren, sondern auf die tatsächliche Wahrung der Verteidigungsrechte abzustellen. Diese gelten als gewahrt, wenn der Antragsgegner Kenntnis vom laufenden Gerichtsverfahren erlangt hat und deswegen seine Rechte geltend machen konnte (Fortführung von BGH v. 22.5.2019 – XII ZB 523/17, FamRZ 2019, 1271 = FamRB 2019, 395).2. Ob im Fall einer nach dem Verfahrensrecht des Ursprungsstaats erfolgten fiktiven Zustellung der Benachrichtigung vom Verfahren die Verteidigungsrechte des Antragsgegners i.S.v. Art. 22 lit. e Nr. i HUÜ 2007 gewahrt sind, ist im Wege einer Abwägung der schützenswerten Interessen des Antragstellers und des Antragsgegners unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (Fortführung von BGH v. 28.11.2007 – XII ZB 217/05, FamRZ 2008, 390 = FamRBint 2008, 34).3. Der Versagungsgrund des Art. 22 lit. e Nr. i HUÜ 2007 entfällt nicht dadurch, dass der Antragsgegner nach Erlangung der Kenntnis von der ausländischen Entscheidung keinen nach der Verfahrensordnung des Ursprungsstaats zulässigen Rechtsbehelf eingelegt hat (Fortführung von BGH v. 3.4.2019 – XII ZB 311/17, FamRZ 2019, 996 = FamRB 2019, 252).

HUÜ 2007 Art. 22 lit. e Nr. i, Art. 23 Abs. 7

Das Problem

Die geschiedenen Ehegatten streiten über die Vollstreckbarerklärung eines gerichtlichen Kindesunterhaltstitels aus Florida. Die in Florida gelebte Ehe der Beteiligten wurde im Jahr 2008 ebenda geschieden und der Kindesunterhalt vorläufig festgesetzt, die endgültige Festsetzung blieb vorbehalten. Die Frau lebt dort mit den Kindern am letzten gemeinsamen Wohnsitz der Familie. Der Ehemann, der den Scheidungsantrag gestellt hatte, kehrte später, aber noch vor Abschluss des Scheidungsverfahrens, nach Deutschland zurück. 2015 kam es dann – noch im Rahmen des Scheidungsverfahrens – zur endgültigen Festsetzung des rückständigen Unterhalts über 71.039,85 $. Das Gericht in Florida hatte diesen Antrag an die im Scheidungsverfahren ursprünglich angegebene Anschrift des Antragsgegners in Florida versendet, an der er sich jedoch nicht mehr aufhielt. Es hat in seiner Entscheidung darauf hingewiesen, dass der Antragsgegner trotz erfolgten Postrücklaufs als ordnungsgemäß benachrichtigt anzusehen sei, da eine Partei nach dem dortigen Recht das Gericht und die andere Partei von ihrer gegenwärtigen Anschrift in Kenntnis setzen müsse. Allerdings hatte auch die Antragstellerin, die den tatsächlichen Aufenthalt des geschiedenen Mannes in Deutschland kannte, ihrerseits dem Gericht keine Mitteilung darüber gemacht.

Das AG hat auf Antrag der Antragstellerin die Unterhaltsentscheidung mit der Vollstreckungsklausel versehen. Demgegenüber hat das OLG auf die Beschwerde des Antragsgegners, der den Einwand fehlender Kenntnis vom Unterhaltsverfahren erhoben hatte, diese Entscheidung aufgehoben und den Vollstreckbarerklärungsantrag zurückgewiesen. Mit ihrer zulassungsfrei statthaften und zulässigen Rechtsbeschwerde verfolgt die Antragstellerin ihren Antrag auf Vollstreckbarerklärung weiter.

Die Entscheidung des Gerichts

Sie hat damit beim BGH jedoch keinen Erfolg. Der BGH bestätigt die angefochtene Entscheidung des OLG in allen entscheidungserheblichen Punkten. Im Verhältnis zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika findet für Unterhaltsansprüche von Kindern und anderen Familienangehörigen seit 1.1.2017 das HUÜ 2007 Anwendung (schon BGH v. 27.5.2020 – XII ZB 102/20, FamRZ 2020, 1293 = FamRB 2020, 308 [Streicher]). Dies gilt auch, soweit die Antragstellerin ihren Antrag auf Anerkennung und Vollstreckung nach dem genannten Zeitpunkt des Inkrafttretens gestellt hat und vor diesem Zeitpunkt fällig gewordene Unterhaltsansprüche geltend gemacht werden. Denn nach den Übergangsbestimmungen des Art. 56 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 HUÜ 2007 steht dies der Anwendung des Übereinkommens nicht entgegen, soweit Kindesunterhalt für einen Zeitraum verlangt wird, in dem keines der anspruchsberechtigten Kinder das 21. Lebensjahr bereits vollendet hatte.

Der BGH weist darauf hin, dass Fallgestaltungen mit fiktiver Zustellung vielfach auch eine Fiktion der Kenntnisnahme zur Folge haben, lehnt es allerdings – obwohl solche Zustellungen im Regelfall als nicht ausreichend anzusehen sein dürften – ab, hierin ein generelles Anerkennungshindernis zu sehen. Denn auch im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr sollen nicht diejenigen Beklagten begünstigt werden, die sich der Rechtsprechung im Ursprungsstaat durch Aufenthalt an einem unbekannten Ort entziehen. Ob sich ein Beklagter in einem späteren Verfahren der Vollstreckbarerklärung auf die seine Verteidigungsmöglichkeiten beschränkende Ineffizienz der fiktiven Zustellung berufen kann, wird vom BGH im Wege einer Abwägung der schützenswerten Interessen des Klägers und des Beklagten im Einzelfall beurteilt (s. schon BGH v. 28.11.2007 – XII ZB 217/05, FamRZ 2008, 390 Rz. 31 = FamRBint 2008, 34 m.w.N.; vgl. auch BGH v. 21.9.2017 – IX ZB 83/16, MDR 2017, 1324 Rz. 25 zu Art. 27 Nr. 2 EuGVÜ; Botur, FamRZ 2010, 1860, 1864 f. zu Art. 34 Nr. 2 Brüssel I-VO [EuGVVO]). Im Rahmen dieser auch bei Art. 22 lit. e Nr. i HUÜ 2007 gebotenen Abwägung beider Interessen ist auf Seiten des Antragsgegners zu untersuchen, ob er die Veranlassung einer fiktiven Zustellung an ihn zu vertreten hat. Daneben prüft der BGH jedoch im Einzelfall ergänzend auch ein vorwerfbares Verhalten der Antragstellerin darauf, ob es bei wertender Betrachtung den Verursachungsbeitrag des Antragsgegners aufwiegen und das Interesse des Antragstellers an wirksamer grenzüberschreitender Unterhaltsvollstreckung (vgl. Art. 1 HUÜ 2007) hinter das Interesse des Antragsgegners an der Wahrung seiner Verteidigungsrechte zurücktreten lassen kann. Dies ist vorliegend nach Auffassung des BGH der Fall, weil die Antragstellerin während des laufenden Verfahrens im Ursprungsstaat den tatsächlichen Aufenthalt des Antragsgegners kannte, sie das Gericht jedoch vor Erlass der Säumnisentscheidung nicht hiervon in Kenntnis gesetzt hat (vgl. auch BGH v. 28.11.2007 – XII ZB 217/05, FamRZ 2008, 390 Rz. 32 ff. = FamRBint 2008, 34 m.w.N.). Nach diesen Maßstäben wurden die Verteidigungsrechte des Antragsgegners in dem der Unterhaltsentscheidung zugrunde liegenden Verfahren nicht in einer Art. 22 lit. e Nr. i HUÜ 2007 entsprechenden Weise gewahrt. Rügt der Antragsgegner das, kann ihm auch nicht entgegengehalten werden, dass er es etwa versäumt hätte, die Unterhaltsentscheidung mit einem nach der Verfahrensordnung des Bundesstaats Florida möglicherweise zulässigen Rechtsbehelf nach Kenntniserlangung anzufechten. Ob ihm ein solcher zur Verfügung stand oder gegebenenfalls immer noch steht, ist bei Art. 22 lit. e Nr. i HUÜ 2007, der nach seinem Wortlaut keine Rechtsbehelfsobliegenheit zu Lasten des Antragsgegners vorsieht, nicht – auch nicht etwa als ungeschriebenes Erfordernis – beachtlich.


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