EGMR, Urt. 16.2.2021 - 23922/19

Pflicht von Whistleblowern zur sorgfältigen Faktenprüfung vor einer Anzeige

Autor: RAin FAinArbR Eva Einfeldt, DWF Germany Rechtsanwaltsgesellschaft mbH
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 03/2021
Ein Hinweisgeber ist, soweit es die Umstände zulassen, vor einer Offenlegung verpflichtet, sorgfältig zu überprüfen, ob die Informationen richtig und zuverlässig sind.

EMRK Art. 10

Das Problem

Der Beschwerdeführer arbeitete als Arzt und stellvertretender Chefarzt im Liechtensteiner Landesspital. Nach Durchsicht verschiedener elektronischer Krankenakten erstattete er Anzeige gegen seinen Vorgesetzten wegen des Verdachts der verbotenen Sterbehilfe, ohne vorher die vorhandenen krankenhausinternen Meldestellen einzuschalten. Im nachfolgenden Ermittlungsverfahren erwiesen sich die Vorwürfe nach Prüfung der – für den Beschwerdeführer leicht zugänglichen – physischen Krankenakten als haltlos. Das Landesspital kündigte dem Beschwerdeführer daraufhin fristlos. Bis auf das Berufungsgericht bestätigten alle nationalen Gerichte die Wirksamkeit der Kündigung. Nach Auffassung des Beschwerdeführers verstößt die Kündigung jedoch gegen sein Recht auf freie Meinungsäußerung nach Art. 10 EMRK.

Die Entscheidung des Gerichts

Das EGMR hält den in der Kündigung liegenden Eingriff in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers für verhältnismäßig. Bei der erforderlichen Abwägung seien stets folgende Aspekte zu berücksichtigen:
  • ein mögliches öffentliches Interesse an der Information,
  • die Zuverlässigkeit und Richtigkeit der Information,
  • die möglichen Konsequenzen für den Arbeitgeber im Verhältnis zum öffentlichen Interesse,
  • die Ausnutzung interner oder sonstiger Meldemöglichkeiten als milderes Mittel,
  • die Motivation des handelnden Arbeitnehmers und
  • schließlich die Schwere der Maßnahme gegen den Arbeitnehmer.
Ausschlaggebendes Kriterium für das Gericht ist hier, dass der Beschwerdeführer vor Erstattung der Anzeige die Fakten nicht gründlicher geprüft hatte. Obwohl ihm bekannt gewesen sei, dass die elektronischen Akten nicht die vollständigen Informationen beinhalteten, habe er es unterlassen, in die ihm jederzeit zugänglichen physischen Akten Einsicht zu nehmen. Hätte er dies getan, hätte er sofort die Haltlosigkeit seiner Vorwürfe erkennen können. Insofern habe er verantwortungslos gehandelt. Hinzu komme, dass diese Überprüfung nicht besonders zeitaufwendig gewesen wäre. Angesichts der Schwere der Vorwürfe wäre er dazu verpflichtet gewesen. Diese Unterlassung sei so schwerwiegend, dass es nicht mehr darauf ankomme, ob er sich darüber hinaus auch zunächst an die internen Meldekanäle hätte wenden müssen.


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