EuGH, Urt. 15.7.2021 - C-804/18 und C-341/19

Rechtfertigung des Verbots sichtbarer religiöser Zeichen am Arbeitsplatz – Kopftuch-Verbot

Autor: RAin FAinArbR Dr. Cornelia Marquardt, maat Rechtsanwälte, München
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 08/2021
Eine Regel, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, stellt keine unmittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung dar, wenn sie allgemein und unterschiedslos angewandt wird. Eine daraus folgende mittelbare Ungleichbehandlung kann mit dem Willen des Arbeitgebers nach Neutralität gegenüber seinen Kunden gerechtfertigt werden, sofern diese Politik einem wirklichen Bedürfnis des Arbeitgebers entspricht, das Neutralitätsgebot konsequent befolgt wird und das Verbot auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt ist.

RL 2000/78/EG Art. 1, Art. 2 Abs. 2, Art. 4, Art. 8; GRCh Art. 10, 16; GG Art. 4, Art. 6 Abs. 2, Art. 7, Art. 12; AGG §§ 1, 2, 3, 7, 8

Das Problem

Die Klägerinnen der Ausgangsverfahren trugen als Erzieherin einer Kindertagesstätte bzw. Verkaufsberaterin eines Drogeriemarkts ein islamisches Kopftuch.

Der Arbeitgeber der Erzieherin hatte diese aufgefordert, das Kopftuch bei der Arbeit abzulegen, da es der Unternehmenspolitik von politischer, weltanschaulicher und religiöser Neutralität gegenüber Eltern, Kindern und Dritten widerspreche. Nach ihrer Weigerung, das Kopftuch abzulegen, mahnte der Arbeitgeber sie ab.

Der Arbeitgeber der Verkaufsberaterin versetzte diese nach ihrer Weigerung, das Kopftuch am Arbeitsplatz abzulegen, und wies sie an, ohne auffällige großflächige Zeichen religiöser, politischer oder weltanschaulicher Überzeugungen zur Arbeit zu kommen.

In den Verfahren gegen die Abmahnung bzw. Weisung haben das Arbeitsgericht Hamburg und das BAG dem EuGH die Fragen vorgelegt,
  • ob eine unternehmensinterne Regel, die das Tragen sichtbarer Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Überzeugungen am Arbeitsplatz verbietet, gegenüber Arbeitnehmern, die aufgrund religiöser Gebote bestimmte Bekleidungsregeln befolgen, eine Diskriminierung darstellt,
  • wann diese Ungleichbehandlung ggf. gerechtfertigt sein kann und
  • wie die Angemessenheitsprüfung durchzuführen ist.

Die Entscheidung des Gerichts

Der EuGH betont, dass das Tragen von Zeichen oder Kleidungsstücken zur Bekundung der eigenen Religion oder Weltanschauung unter die durch Art. 10 GRCh geschützte Gewissens- und Religionsfreiheit fällt.

Eine unternehmensinterne Regelung, die unterschiedslos für jede Bekundung solcher Überzeugungen gelte und allen Arbeitnehmern des Unternehmens neutrale Kleidung vorschreibe, sei keine unmittelbare Diskriminierung. Auch wenn nur einige Arbeitnehmer religiöse Gebote befolgen, die eine bestimmte Kleidung vorschreiben, führe eine neutrale Regelung nicht zu einer Ungleichbehandlung, solange die Regel allgemein und ohne Differenzierung nach der Religion angewandt werde. Allerdings betreffe eine solche Regel statistisch fast ausschließlich Arbeitnehmerinnen muslimischen Glaubens und stelle deshalb eine mittelbare Ungleichbehandlung dar. Diese könne jedoch gerechtfertigt sein, wenn der Arbeitgeber eine Politik weltanschaulicher, politischer und religiöser Neutralität gegenüber Kunden verfolge, um deren entsprechende Erwartungen zu erfüllen, oder die Absicht hege, hierdurch soziale Konflikte innerhalb der Belegschaft zu vermeiden.

Voraussetzung sei, dass ein wirkliches Bedürfnis des Arbeitgebers für eine entsprechende Politik bestehe. Speziell für den Bereich der Betreuung von Kindern könne dies der Fall sein, wenn der Arbeitgeber nachweise, dass ohne die gewünschte Neutralitätspolitik seine in Art. 16 GRCh anerkannte unternehmerische Freiheit beeinträchtigt würde. Die Ungleichbehandlung müsse zudem geeignet sein, die Neutralitätspolitik durchzusetzen, und deshalb konsequent und systematisch befolgt werden; des Weiteren müsse sie auf das unbedingt erforderliche Maß beschränkt sein (z.B. auf Personen mit Kundenkontakt).

Demgegenüber führe eine interne Regel, die nicht jedes sichtbare, sondern nur auffällige großflächige Zeichen politischer, weltanschaulicher oder religiöser Zeichen verbiete, zu einer stärkeren Beeinträchtigung von Personen, deren Religion bzw. Weltanschauung gerade solche Zeichen fordern. Dies könne als unmittelbare Diskriminierung nicht gerechtfertigt werden.


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