EuGH, Urt. 17.3.2022 - C-232/20

„Vorübergehende Überlassung“ im Sinn der Leiharbeitsrichtlinie

Autor: RA FAArbR Axel Groeger, Redeker Sellner Dahs, Bonn
Aus: Arbeits-Rechtsberater, Heft 04/2022
Ein missbräuchlicher Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen eines Leiharbeitnehmers i.S.v. Art. 1 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 5 RL 2008/104 kann darin liegen, dass diese auf demselben Arbeitsplatz bei demselben entleihenden Unternehmen für eine Dauer von 55 Monaten verlängert werden. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Überlassungen zu einer Beschäftigungsdauer beim Unternehmen führen, die länger ist als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, insbesondere der Branchenbesonderheiten und des nationalen Regelungsrahmens vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, ohne dass eine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift.

RL 2008/104/EG Art. 1 Abs. 1, Art. 5 Abs. 1 u. 5

Das Problem

Der Anwendungsbereich der Richtlinie (RL) 2008/104/EG erstreckt sich auf Arbeitnehmer, die mit einem Leiharbeitsunternehmen ein Beschäftigungsverhältnis eingegangen sind und die entleihenden Unternehmen zur Verfügung gestellt werden, um vorübergehend unter deren Aufsicht und Leitung zu arbeiten (Art. 1 Abs. 1 RL 2008/104/EG). Nach Art. 5 Abs. 5 RL 2008/104/EG ergreifen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen gemäß ihren nationalen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten, um aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der Richtlinie umgangen werden sollen, zu verhindern.

Die Entscheidung des Gerichts

Der Begriff „vorübergehend“ kennzeichnet nicht den im entleihenden Unternehmen zu besetzenden Arbeitsplatz, sondern die Modalitäten der Überlassung eines Arbeitnehmers an dieses Unternehmen. Die Richtlinie 2008/104/EG zielt nicht darauf ab, die Dauer der Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen, bei deren Überschreitung eine solche Überlassung nicht mehr als „vorübergehend“ eingestuft werden kann, festzulegen oder durch die Mitgliedstaaten festlegen zu lassen. Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für den Leiharbeitnehmer wird (EuGH, Urt. v. 14.10.2020 – C-681/18 Rz. 55 u. 60).

Sofern in den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats die zulässige Dauer nicht genannt wird, ist es Sache der nationalen Gerichte, diese Dauer für jeden Einzelfall und unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, zu denen insbesondere die Branchenbesonderheiten zählen, zu bestimmen und sich zu vergewissern, dass die aufeinanderfolgenden Überlassungen eines Leiharbeitnehmers nicht darauf ausgelegt waren, die Ziele der Richtlinie 2008/104/EG, insbesondere die vorübergehende Natur der Leiharbeit, zu umgehen.

Führen aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leiharbeitnehmers bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen, die länger ist, als das, was unter Berücksichtigung sämtlicher relevanter Umstände, insbesondere der Branchenbesonderheiten, vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, könnte dies ein Hinweis auf einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen sein.

Ebenso hat das nationale Gericht, wenn in einem konkreten Fall keine objektive Erklärung dafür gegeben wird, warum das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift, vor dem Hintergrund des nationalen Rechtsrahmens und unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen, ob eine der Bestimmungen der Richtlinie 2008/104/EG umgangen wird. Das gilt erst recht, wenn immer derselbe Leiharbeitnehmer durch eine Reihe von Verträgen dem entleihenden Unternehmen überlassen wird.


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