EuGH, Urt. 20.3.2025 - C-61/24
Gewöhnlicher Aufenthalt eines Diplomaten
Autor: RiOLG Jörg Michael Dimmler, Stuttgart
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 06/2025
Aus: Familien-Rechtsberater, Heft 06/2025
Der Diplomatenstatus einer der Ehegatten und dessen dienstliche Verwendung auf einer Stelle im Empfangsstaat stehen grundsätzlich der Annahme des „gewöhnlichen Aufenthalts“ der Ehegatten in diesem Staat entgegen.Unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Dauer der physischen Präsenz der Ehegatten sowie ihre soziale und familiäre Integration in diesem Staat, kann allerdings ein neuer gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden. Dafür muss ein entsprechender Wille der Ehegatten sowie eine Präsenz in diesem Staat festgestellt werden, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweist.
VO (EU) Nr. 1259/2010 Art. 8 lit. a, lit. b; VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 3 Abs. 1; Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen Art. 31 Abs. 1
Die beteiligten Ehegatten, beide deutsche Staatsangehörige, sind seit dem Jahr 1989 verheiratet. Aus ihrer Ehe sind zwei inzwischen volljährige Kinder hervorgegangen. Im Jahr 2006 mieteten die Ehegatten eine Wohnung in Berlin an, in der sie gemeinsam lebten. Im Juni 2017 zogen sie mit nahezu ihrem gesamten Hausstand nach Schweden, wo der Ehemann an die Deutsche Botschaft in Stockholm versetzt worden war. Ihren inländischen Wohnsitz meldeten die Beteiligten im Juni 2017 entsprechend der für deutsche Beamte bestehenden Verpflichtung ab. Im Jahr 2019 wurde der Ehemann an die Deutsche Botschaft in Moskau versetzt. Im September 2019 zogen die Ehegatten mit ihrem Hausstand von Stockholm nach Moskau in eine Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Der Ehemann ist Botschaftsrat und beherrscht – anders als die Ehefrau – die russische Sprache. Die Ehefrau war als Angehörige eines Botschaftsmitarbeiters ebenfalls in der Wohnung auf dem Compound gemeldet; sie meldete auch ihr Auto in Russland an. Beide Eheleute besitzen einen Diplomatenpass. Ihre Mietwohnung in Berlin behielten die Ehegatten bei, um nach der Auslandstätigkeit des Ehemanns wieder dorthin zurückkehren zu können.
Seit September 2019 lebt ein Kind in dieser Wohnung. Teile dieser Wohnung wurden im Frühsommer 2020 untervermietet. Im Januar 2020 reiste die Ehefrau nach Berlin, um sich dort einer Operation zu unterziehen. In einem Moskauer Krankenhaus wollte sie sich nicht behandeln lassen. Sie wohnte in der Folgezeit in der angemieteten Wohnung in Berlin. Im August und September 2020 reiste auch der Ehemann nach Berlin und hielt sich in dieser Wohnung auf. Am 26.2.2021 kehrte die Ehefrau nach Moskau zurück und wohnte in der Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Nach Angaben des Ehemanns teilten die Eheleute ihren Kindern Mitte März 2021 mit, dass sie sich scheiden lassen wollten. Die Ehefrau reiste am 23.5.2021 nach Berlin und lebt seither in der dortigen Mietwohnung der Beteiligten. Der Ehemann lebt weiterhin in der Wohnung auf dem Compound der Botschaft.
Am 8.7.2021 hat der Ehemann beim AG Tempelhof-Kreuzberg einen Scheidungsantrag gestellt. Er hat vorgetragen, dass die Eheleute seit Januar 2020 getrennt gelebt hätten, die Ehefrau im März 2021 nur für einen kurzen Zeitraum nach Moskau gereist sei und die Ehegatten sich dann endgültig getrennt hätten. Die Ehefrau ist dem Scheidungsantrag mit der Begründung entgegengetreten, dass eine Trennung der Ehegatten frühestens im Mai 2021 erfolgt sei. Aufgrund der medizinischen Behandlung habe sie sich vom 15.1.2020 bis zum 26.2.2021 in Berlin aufgehalten. Eine frühere Rückkehr nach Moskau sei wegen ihres Gesundheitszustands und der Corona-Beschränkungen nicht möglich gewesen. Bis zu ihrer Abreise aus Moskau im Mai 2021 habe sie sich um den dortigen Haushalt der Ehegatten gekümmert.
Das AG hat den Scheidungsantrag durch Beschluss vom 26.1.2022 zurückgewiesen. Nach deutschem Recht sei das Trennungsjahr noch nicht abgelaufen. Auf die Beschwerde des Ehemanns hat das KG die Ehe nach russischem Sachrecht geschieden. Das anzuwendende Recht richte sich nach Art. 8 lit. b Rom III-VO, da der gewöhnliche Aufenthalt des Ehemanns weiterhin in Moskau sei, während der dortige gewöhnliche Aufenthalt der Ehefrau erst mit ihrer Abreise nach Deutschland im Mai 2021 geendet habe, also weniger als ein Jahr vor Anrufung des AG.
Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Ehefrau, die eine Scheidung nach deutschem Sachrecht und zusammen mit dem Scheidungsausspruch eine von Amts wegen zu treffende Entscheidung über den Versorgungsausgleich erstrebt.
Der BGH will nach entsprechender Umformulierung durch den EuGH geklärt wissen, ob für die Bestimmung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ der Ehegatten i.S.v. Art. 8. lit. a und b Rom III-VO die dienstliche Verwendung eines der Ehegatten als Diplomat in einem Staat, die Dauer der physischen Präsenz der Ehegatten in diesem Staat sowie das Maß an sozialer und familiärer Integration in diesem Staat relevante oder sogar entscheidende Gesichtspunkte sind.
Bei der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Diplomaten ist jedoch eine jeweilige konkrete Einzelfallprüfung vorzunehmen. Der EuGH betont, dass der Aufenthalt eines Diplomaten im Hoheitsgebiet des Empfangsstaats grundsätzlich ausschließlich beruflichen Zwecken dient, da er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausübung seiner Aufgaben steht. Nicht maßgebend sind der Wille oder die persönlichen Vorlieben des im Empfangsstaat eingesetzten Diplomaten. Zudem genießt ein Diplomat weitgehend Immunität auch in Zivil- und Verwaltungsangelegenheiten gem. Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961. Auch wenn sich Diplomaten oft längere Zeit im Empfangsstaat aufhalten, ist allein die Dauer der physischen Präsenz noch kein allein ausschlaggebendes Kriterium. So ist die besondere Situation der Diplomaten und ihrer Familienangehörigen aufgrund der Art ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen, so die enge Beziehung zum Entsendestaat und dem bestehenden Rotationsprinzip. Die weitgehende soziale Integration in einem Staat – Entsende- oder Empfangsstaat – stellt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts einen relevanten Gesichtspunkt dar, da sie das subjektive Element, das mit dem Willen der Betreffenden zusammenhängt, den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Interessen an einem bestimmten Ort zu begründen, konkretisieren kann. Auch die im Entsendungsstaat beibehaltenen oder aber im Empfangsstaat neu geschaffenen familiären Bindungen können berücksichtigt werden.
VO (EU) Nr. 1259/2010 Art. 8 lit. a, lit. b; VO (EG) Nr. 2201/2003 Art. 3 Abs. 1; Wiener Übereinkommen über diplomatische Beziehungen Art. 31 Abs. 1
Das Problem
Der BGH hat den EuGH zur Vorabentscheidung wegen des gewöhnlichen Aufenthalts eines Diplomaten im Rahmen des Art. 8 VO (EU) Nr. 1259/2010 (Rom III-VO) angerufen (BGH v. 20.12.2023 – XII ZB 117/23, FamRZ 2024, 343 = FamRB 2024, 95 [Dimmler]).Die beteiligten Ehegatten, beide deutsche Staatsangehörige, sind seit dem Jahr 1989 verheiratet. Aus ihrer Ehe sind zwei inzwischen volljährige Kinder hervorgegangen. Im Jahr 2006 mieteten die Ehegatten eine Wohnung in Berlin an, in der sie gemeinsam lebten. Im Juni 2017 zogen sie mit nahezu ihrem gesamten Hausstand nach Schweden, wo der Ehemann an die Deutsche Botschaft in Stockholm versetzt worden war. Ihren inländischen Wohnsitz meldeten die Beteiligten im Juni 2017 entsprechend der für deutsche Beamte bestehenden Verpflichtung ab. Im Jahr 2019 wurde der Ehemann an die Deutsche Botschaft in Moskau versetzt. Im September 2019 zogen die Ehegatten mit ihrem Hausstand von Stockholm nach Moskau in eine Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Der Ehemann ist Botschaftsrat und beherrscht – anders als die Ehefrau – die russische Sprache. Die Ehefrau war als Angehörige eines Botschaftsmitarbeiters ebenfalls in der Wohnung auf dem Compound gemeldet; sie meldete auch ihr Auto in Russland an. Beide Eheleute besitzen einen Diplomatenpass. Ihre Mietwohnung in Berlin behielten die Ehegatten bei, um nach der Auslandstätigkeit des Ehemanns wieder dorthin zurückkehren zu können.
Seit September 2019 lebt ein Kind in dieser Wohnung. Teile dieser Wohnung wurden im Frühsommer 2020 untervermietet. Im Januar 2020 reiste die Ehefrau nach Berlin, um sich dort einer Operation zu unterziehen. In einem Moskauer Krankenhaus wollte sie sich nicht behandeln lassen. Sie wohnte in der Folgezeit in der angemieteten Wohnung in Berlin. Im August und September 2020 reiste auch der Ehemann nach Berlin und hielt sich in dieser Wohnung auf. Am 26.2.2021 kehrte die Ehefrau nach Moskau zurück und wohnte in der Wohnung auf dem Compound der Botschaft. Nach Angaben des Ehemanns teilten die Eheleute ihren Kindern Mitte März 2021 mit, dass sie sich scheiden lassen wollten. Die Ehefrau reiste am 23.5.2021 nach Berlin und lebt seither in der dortigen Mietwohnung der Beteiligten. Der Ehemann lebt weiterhin in der Wohnung auf dem Compound der Botschaft.
Am 8.7.2021 hat der Ehemann beim AG Tempelhof-Kreuzberg einen Scheidungsantrag gestellt. Er hat vorgetragen, dass die Eheleute seit Januar 2020 getrennt gelebt hätten, die Ehefrau im März 2021 nur für einen kurzen Zeitraum nach Moskau gereist sei und die Ehegatten sich dann endgültig getrennt hätten. Die Ehefrau ist dem Scheidungsantrag mit der Begründung entgegengetreten, dass eine Trennung der Ehegatten frühestens im Mai 2021 erfolgt sei. Aufgrund der medizinischen Behandlung habe sie sich vom 15.1.2020 bis zum 26.2.2021 in Berlin aufgehalten. Eine frühere Rückkehr nach Moskau sei wegen ihres Gesundheitszustands und der Corona-Beschränkungen nicht möglich gewesen. Bis zu ihrer Abreise aus Moskau im Mai 2021 habe sie sich um den dortigen Haushalt der Ehegatten gekümmert.
Das AG hat den Scheidungsantrag durch Beschluss vom 26.1.2022 zurückgewiesen. Nach deutschem Recht sei das Trennungsjahr noch nicht abgelaufen. Auf die Beschwerde des Ehemanns hat das KG die Ehe nach russischem Sachrecht geschieden. Das anzuwendende Recht richte sich nach Art. 8 lit. b Rom III-VO, da der gewöhnliche Aufenthalt des Ehemanns weiterhin in Moskau sei, während der dortige gewöhnliche Aufenthalt der Ehefrau erst mit ihrer Abreise nach Deutschland im Mai 2021 geendet habe, also weniger als ein Jahr vor Anrufung des AG.
Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde der Ehefrau, die eine Scheidung nach deutschem Sachrecht und zusammen mit dem Scheidungsausspruch eine von Amts wegen zu treffende Entscheidung über den Versorgungsausgleich erstrebt.
Der BGH will nach entsprechender Umformulierung durch den EuGH geklärt wissen, ob für die Bestimmung des „gewöhnlichen Aufenthalts“ der Ehegatten i.S.v. Art. 8. lit. a und b Rom III-VO die dienstliche Verwendung eines der Ehegatten als Diplomat in einem Staat, die Dauer der physischen Präsenz der Ehegatten in diesem Staat sowie das Maß an sozialer und familiärer Integration in diesem Staat relevante oder sogar entscheidende Gesichtspunkte sind.
Die Entscheidung des Gerichts
Ausgehend von einer einheitlichen und autonomen Auslegung des Begriffs des „gewöhnlichen Aufenthalts“ entscheidet der EuGH die Vorlagefrage dahingehend, dass Diplomaten ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Entsendungsstaat grundsätzlich beibehalten. Ausnahmsweise kann unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bei Würdigung der objektiven und subjektiven Kriterien anderes gelten. Der EuGH betont zunächst, dass die Kriterien des „gewöhnlichen Aufenthalts“ im Rahmen der Rom III-VO denen der VO (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel IIa-VO) entsprechen (Stichwort notwendige Kohärenz). Der gewöhnliche Aufenthalt ist grundsätzlich durch zwei Elemente gekennzeichnet, nämlich zum einen durch den Willen der betreffenden Personen, an einem bestimmten Ort den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Interessen zu begründen, und zum anderen durch eine Anwesenheit im Hoheitsgebiet des betroffenen Mitgliedstaats, die einen hinreichenden Grad an Beständigkeit aufweist, mithin die Dauer der physischen Präsenz. Dadurch wird zum einem das Ziel der Rechtssicherheit und der Berechenbarkeit als auch die erforderliche Flexibilität in Ehesachen garantiert, zum anderen wird einem etwaigen Missbrauch bei der Wahl des anzuwendenden Rechts vorgebeugt.Bei der Feststellung des gewöhnlichen Aufenthalts eines Diplomaten ist jedoch eine jeweilige konkrete Einzelfallprüfung vorzunehmen. Der EuGH betont, dass der Aufenthalt eines Diplomaten im Hoheitsgebiet des Empfangsstaats grundsätzlich ausschließlich beruflichen Zwecken dient, da er in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausübung seiner Aufgaben steht. Nicht maßgebend sind der Wille oder die persönlichen Vorlieben des im Empfangsstaat eingesetzten Diplomaten. Zudem genießt ein Diplomat weitgehend Immunität auch in Zivil- und Verwaltungsangelegenheiten gem. Art. 31 Abs. 1 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen vom 18.4.1961. Auch wenn sich Diplomaten oft längere Zeit im Empfangsstaat aufhalten, ist allein die Dauer der physischen Präsenz noch kein allein ausschlaggebendes Kriterium. So ist die besondere Situation der Diplomaten und ihrer Familienangehörigen aufgrund der Art ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen, so die enge Beziehung zum Entsendestaat und dem bestehenden Rotationsprinzip. Die weitgehende soziale Integration in einem Staat – Entsende- oder Empfangsstaat – stellt für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts einen relevanten Gesichtspunkt dar, da sie das subjektive Element, das mit dem Willen der Betreffenden zusammenhängt, den gewöhnlichen Mittelpunkt ihrer Interessen an einem bestimmten Ort zu begründen, konkretisieren kann. Auch die im Entsendungsstaat beibehaltenen oder aber im Empfangsstaat neu geschaffenen familiären Bindungen können berücksichtigt werden.