Hartz IV – Kürzungen als Strafe bei mangelnder Mitwirkung?

09.06.2022, Redaktion Anwalt-Suchservice
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ALG II,Hartz IV,Strafen,Sanktionen,Kürzungen Bei mangelnder Kooperation hat das Jobcenter einige Druckmittel. © Bu - Anwalt-Suchservice

Bezieher von ALG II ("Hartz IV") müssen Kürzungen befürchten, wenn sie ihre Pflichten nicht erfüllen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts werden viele Sanktionen nun ausgesetzt.

"Fördern und Fordern" soll das Motto vom Arbeitslosengeld II sein – das steht auch im Gesetz. Das 2. Sozialgesetzbuch (SGB II) regelt die Voraussetzungen für den Leistungsbezug. Es knüpft die Leistungen jedoch auch an Voraussetzungen, welche mit dem Verhalten der Betroffenen zusammenhängen. Die Eigenverantwortung steht im Vordergrund. Leistungsempfänger sollen ihren Lebensunterhalt möglichst bald wieder selbst bestreiten können, unabhängig von der Grundsicherung. Dies soll auch durch Strafen erreicht werden, wenn die Betreffenden sich nicht genug Mühe geben. Das System der Kürzungen ist jedoch umstritten. Eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 erklärt einige Maßnahmen für verfassungswidrig. Einige Sanktionen werden nun für ein Jahr ausgesetzt. Das geplante Bürgergeld wird weitere Änderungen mit sich bringen.

Wie viele Sanktionen werden beim ALG II verhängt?


Im Jahr 2018 wurden zum Beispiel 904.000 Strafmaßnahmen verhängt – davon 77 Prozent wegen Terminversäumnissen. 2019 waren es 806.800 Sanktionen, 2020 dann 171.100 Sanktionen. Der starke Rückgang wird auf Corona zurückgeführt: Bei den meisten Sanktionen geht es um verpasste Termine. Weil diese aber wegen Kontaktbeschränkungen sowieso nicht stattfinden konnten oder durch Telefonate ersetzt wurden, entfielen auch die Sanktionen.

Wann drohen Kürzungen?


Nach § 31 SGB II müssen Erwerbsfähige bei folgenden Pflichtverletzungen mit Sanktionen rechnen:

- bei einer Weigerung, die in einer Eingliederungsvereinbarung festgelegten Pflichten zu erfüllen, insbesondere ausreichende eigene Bemühungen nachzuweisen,
- bei einer Weigerung, eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit oder ein gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, fortzuführen oder bei Verhinderung einer entsprechenden Anbahnung durch eigenes Verhalten,
- beim Nichtantreten einer zumutbaren Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit, bei deren Abbruch oder wenn sie Anlass für den Abbruch geben.

Kürzungen setzen voraus, dass die Behörde zuvor den Betroffenen schriftlich auf die Folgen der Pflichtverletzung hingewiesen hat oder dieser die Folgen kannte. Gerade dieser Punkt sorgt manchmal für unwirksame Bescheide. Streit gibt es immer wieder auch um die Zumutbarkeit.
Leistungskürzungen wegen dieser Pflichtverletzungen scheiden aus, wenn der Betroffene für sein Verhalten einen wichtigen Grund hat und dies beweisen kann.

Auch drohen nach § 31 Abs. 2 SGB II Sanktionen, wenn erwerbsfähige Leistungsempfänger

- nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen in der Absicht vermindern, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen,
- trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen,
- keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld mehr haben, weil die Agentur für Arbeit das Eintreten einer Sperrzeit oder das Erlöschen des Anspruchs festgestellt hat, oder
- die Voraussetzungen für das Eintreten einer Sperrzeit erfüllen, die das Ruhen oder Erlöschen eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld begründen.

Welche Strafen drohen?


Die Kürzung der Leistungen ist die üblichste Strafmaßnahme. Dies ist geregelt in § 31a SGB II.

Seit der unten genauer beschriebenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wurden die Gesetze noch nicht geändert.

Die Gesetzeslage ist:

Bei erwerbsfähigen Personen werden bei einer Pflichtverletzung in einer ersten Stufe die Leistungen um 30 Prozent des Regelbedarfs gekürzt. Wenn sich die Pflichtverletzung das erste Mal wiederholt, verringert sich das Arbeitslosengeld II um 60 Prozent des Regelbedarfs. Jede weitere Pflichtverletzung führt zum vollständigen Entfallen der Leistungen. Die Leistungskürzung dauert nach § 31b SGB II drei Monate.

Eine wiederholte Pflichtverletzung liegt nur vor, wenn vorher bereits der Leistungsbezug reduziert worden ist. Sie liegt nicht vor, wenn seit dem Beginn des letzten Minderungszeitraumes über ein Jahr vergangen ist. Erklärt sich der Leistungsberechtigte nachträglich dazu bereit, seine Pflichten künftig zu erfüllen, kann die Behörde die Minderung der Leistungen von diesem Zeitpunkt an auf 60 Prozent des Regelbedarfs beschränken.

Der Sozialhilfeträger kann auf Antrag bei Minderungen um mehr als 30 Prozent Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen, etwa Lebensmittelgutscheine. Dazu ist er jedoch nur verpflichtet, wenn im Haushalt minderjährige Kinder leben. Bei einer Minderung des Regelbedarfs um mehr als 60 Prozent sollen zusätzliche Leistungen für Unterkunft und Heizung direkt vom Jobcenter an den Vermieter gehen.

Nichterwerbsfähigen Leistungsempfängern drohen diese Sanktionen ebenfalls, wenn sie

- nach Vollendung des 18. Lebensjahres ihr Einkommen oder Vermögen in der Absicht verringert haben, die Voraussetzungen für die Gewährung oder Erhöhung des Arbeitslosengeldes II herbeizuführen,
- trotz Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis ihr unwirtschaftliches Verhalten fortsetzen.

Termin verpasst – was sind die Folgen?


Eine besondere Reglung gibt es für die Verletzung der Meldepflichten. Nach § 32 SGB II können die Leistungen um 10 Prozent des Regelbedarfs verringert werden, wenn der Betroffene einer Aufforderung des Jobcenters nicht nachkommt, zu einem Termin zu erscheinen oder sich zu melden, oder, wenn er nicht zu einer ärztlichen oder psychologischen Untersuchung kommt. Allerdings gilt dies nicht, wenn er einen wichtigen Grund für sein Nichterscheinen nachweisen kann (etwa eine Erkrankung).

Welche Kürzungen drohen unter 25-Jährigen?


Erwerbsfähigen Menschen unter 25 drohen schärfere Strafen. Ihr Arbeitslosengeld II wird nach einer Pflichtverletzung auf die Leistungen für Unterkunft und Heizung beschränkt. Der normale Regelbedarf entfällt also komplett. Bei Wiederholung der Pflichtverletzung wird auch kein Geld mehr für Unterkunft und Heizung bezahlt. Auch hier setzt eine Wiederholung voraus, dass zuvor bereits die Leistungen als Sanktion gemindert wurden. Keine Wiederholung liegt vor, wenn seit dem Beginn des letzten Minderungszeitraumes über ein Jahr vergangen ist. Wenn sich der Leistungsberechtigte dazu bereit erklärt, seine Pflichten in Zukunft zu erfüllen, kann die Behörde ihm das Geld für Unterkunft und Heizung wieder zukommen lassen.

Welche Probleme gibt es bei der Verhängung von Kürzungen?


Das Hauptproblem bei den Sanktionen: Schon die kleinstmögliche Kürzung der Leistungen führt beim Betroffenen zu einer Unterschreitung des Existenzminimums. Daher sind die Folgen also schon beim ersten Verstoß drastisch. Der ALG-II-Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen im Jahr 2022 beträgt 449 Euro.

ALG-II-Kürzungen erfordern eine vorherige Rechtsfolgenbelehrung. Manchmal findet diese jedoch nicht statt. Eine korrekte Belehrung bedeutet nicht, dass die Behörde nur allgemein schreibt, dass Sanktionen drohen. Sie muss diese genau und verständlich erklären. Sonst ist der spätere Kürzungs-Bescheid unwirksam.

Nach einem Urteil des Landessozialgerichts Hamburg war eine mehrfache Minderung von Leistungen wegen Verstoßes gegen Meldepflichten unwirksam. Die Sanktionsbescheide enthielten keine ausreichende Rechtsfolgenbelehrung. Auch waren sie inhaltlich nicht hinreichend bestimmt, also nicht konkret genug. "Mithin muss aus dem Verfügungssatz für die Beteiligten vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde will", so das Gericht (Urteil vom 18.8.2010, Az. L 5 AS 78/09).

Das Sozialgericht Gießen betrachtete eine 30-prozentige Kürzung der Leistungen als unrechtmäßig. Dabei ging es um einen Leistungsempfänger, der sich nicht auf eine vorgeschlagene Stelle beworben hatte. Dieser war nicht über die Folgen einer solchen Weigerung informiert worden. Daher mussten die einbehaltenen Leistungen doch noch an ihn ausgezahlt werden (Urteil vom 14.1.2013, Az. S 29 AS 676/11).

Was hat das Bundesverfassungsgericht 2019 entschieden?


Im November 2019 hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall eines Mannes beschäftigt, der eine Stelle als Lagerarbeiter abgelehnt hatte. Dem Arbeitgeber hatte der ausgebildete Lagerist gesagt, dass er lieber im Verkaufsbereich arbeiten wolle. Er löste jedoch einen Aktivierungs- und Vermittlungsgutschein für eine praktische Erprobung im Verkaufsbereich nicht ein. Daher wurde sein Regelsatz um 60 Prozent heruntergesetzt.

Das Bundesverfassungsgericht erklärte, dass der Gesetzgeber Leistungen zur Sicherstellung des Existenzminimums an Mitwirkungspflichten knüpfen dürfe. Bei fehlender Mitwirkung dürften auch Sanktionen verhängt werden. Aber: Es ginge hier um existenzsichernde Leistungen und das Existenzminimum sei durch das Grundgesetz geschützt. Daher müsse man hohe Maßstäbe an die Wahrung der Verhältnismäßigkeit ansetzen. Die gesetzliche Regelung müsse geeignet, erforderlich und angemessen sein, um das angestrebte Ziel zu erreichen.

Eine Kürzung um 30 Prozent sei noch mit dem Grundgesetz vereinbar. Dies gelte jedoch nicht für die Vorschrift, den Regelbedarf bei Pflichtverletzungen ohne weitere Prüfung immer zwingend zu mindern. Die jetzige Regelung berücksichtige nicht, dass auch Härtefälle denkbar seien, in denen eine Kürzung aus ganz konkreten Gründen unzumutbar sei.

Das Gericht kritisierte auch, dass der Regelsatz ohne Rücksicht auf den Einzelfall immer pauschal für drei Monate herabgesetzt werde. Zumutbar sei eine solche Maßnahme nur, wenn sie in dem Moment ende, in dem der Leistungsbezieher seine Pflichten wieder erfülle und sich um eine Arbeit bemühe. Genau dies sei ja gerade das Ziel der gesetzlichen Regelung.

Nicht mehr mit dem Grundgesetz vereinbar sei eine Kürzung des Regelsatzes um 60 Prozent. Dadurch werde das Existenzminimum zu sehr unterschritten. Es existierten keine tragfähigen Erkenntnisse dazu, ob eine so drastische Sanktion die gewünschten Ergebnisse habe oder eher negative Folgen. Es seien mildere Mittel möglich, etwa geringere Kürzungen oder deren zeitliche Verlängerung.
Trotzdem sei eine Kürzung bisher auch in offensichtlich ungeeigneten Fällen zwingend mit einer Dauer von drei Monaten vorgeschrieben. Ausnahmen für Härtefälle sehe das Gesetz nicht vor.

Verfassungswidrig sei auch eine komplette Streichung der Leistungen. Es sei in keiner Weise belegt, dass ein Wegfall existenzsichernder Leistungen notwendig sei, um die Betroffenen zur Mitwirkung zu bewegen. Mildere Mittel könnten genauso effektiv oder sogar wirkungsvoller sein. Die Anwältin des Klägers hatte argumentiert, dass allzu harte Strafmaßnahmen Betroffene durchaus in eine Abwärtsspirale aus Existenzängsten und Resignation treiben können – anstatt als Motivation zu dienen (Urteil vom 5.11.2019, Az. 1 BvL 7/16).

Das Gericht hat sich nicht zu den Kürzungen für unter 25-Jährige geäußert.

Aktuelle Entwicklung - Aussetzung der Sanktionen und geplantes Bürgergeld


Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts erlaubt weiterhin eine Reduzierung des Regelsatzes um 30 Prozent. Allerdings muss dafür gesorgt werden, dass es bei Härtefällen Ausnahmen gibt. Die Minderung darf auch bei wiederholten Pflichtverletzungen 30 Prozent des Regelsatzes nicht überschreiten. Die Vorgabe über die dreimonatige Dauer der Sanktion ist anwendbar, wenn die Behörde diese beenden kann, sobald der Leistungsempfänger seine Pflichten wieder verfüllt. Eine gesetzliche Neuregelung ist erforderlich.

Zunächst hat die Bundesagentur für Arbeit in ihren fachlichen Weisungen an die einzelnen Behörden im Dezember 2019 festgelegt, dass die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bei Sanktionen zu beachten ist. Auch im Wiederholungsfall wurden daher keine Minderungen von mehr als 30 Prozent mehr vorgenommen. Infolge der Corona-Pandemie wurden die Sanktionen zeitweise ganz ausgesetzt.

Der Bundestag hat am 19.4.2022 beschlossen, eine Reihe von Hartz-IV-Sanktionen auszusetzen. Die entsprechende Reform des Zweiten Sozialgesetzbuches soll ab Inkrafttreten für ein Jahr gelten, also voraussichtlich bis Juli 2023. Es handelt sich um eine Übergangslösung bis zur Einführung des neuen Bürgergeldes.
Während des Moratoriums dürfen die Jobcenter bei Pflichtverletzungen wie etwa der Weigerung, eine Arbeit anzunehmen oder an einer Maßnahme teilzunehmen, keine Sanktionen mehr verhängen. Aber: Im Fall von Meldeversäumnissen - also Nichterscheinen zu Terminen im Jobcenter - sind immer noch Sanktionen möglich. Im Wiederholungsfall dürfen die Leistungen um bis zu zehn Prozent des Regelbedarfs gekürzt werden.

In der zweiten Jahreshälfte 2023 soll dann das neue Bürgergeld das bisherige Hartz-IV-System ersetzen. Beim Bürgergeld soll die oben erläuterte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden. Das bedeutet: Auch beim Bürgergeld wird es Sanktionen im Fall von Pflichtverletzungen geben. Der Regelbedarf wird dann um bis zu 30 Prozent gekürzt werden dürfen. In Härtefällen sind Sachleistungen bis zu einem bestimmten Anteil geplant. Die Mitwirkungspflichten der Leistungsempfänger sollen sich aus einer sogenannten Teilhabevereinbarung (bisher: Eingliederungsvereinbarung) ergeben.

Praxistipp zu den ALG II-Sanktionen


Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat die bisherige Vorgehensweise der Behörden bei ALG II-Sanktionen beendet. Wie die Regelungen des Bürgergeldes im Einzelnen aussehen werden, bleibt abzuwarten. Bei Auseinandersetzungen mit dem Jobcenter empfiehlt sich für Betroffene die Beratung durch einen Fachanwalt für Sozialrecht.

(Wk)


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 Günter Warkowski
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