Säuglingsmisshandlung: OLG Hamm entscheidet
27.11.2025, Autor: Herr Bernd Giese / Lesedauer ca. 4 Min. (2 mal gelesen)
Das OLG Hamm bestätigt den teilweisen Entzug der elterlichen Sorge, weil das Kind schwerste, eindeutig misshandlungsbedingte Verletzungen erlitten hat und beide Eltern weder willens noch in der Lage sind, die damit verbundene erhebliche Wiederholungsgefahr abzuwenden. Mildere Maßnahmen scheiden aus, da die Gefährdungslage gravierend, die Ursache ungeklärt und eine sichere Betreuung des Kindes im elterlichen Umfeld nicht gewährleistet ist.
(OLG Hamm, Beschluss vom 16.07.2025 – 4 UF 213/24)
Der Fall wirkt auf den ersten Blick verstörend und ist in der familiengerichtlichen Praxis gleichwohl nicht selten: Ein wenige Wochen altes Kind erleidet schwerste Verletzungen, die nur durch massive Gewalteinwirkung erklärbar sind. Strafrechtlich lässt sich nicht nachweisen, welcher Elternteil verantwortlich ist – das Verfahren wird eingestellt. Trotzdem entzieht das Familiengericht der Kindesmutter wesentliche Teile der elterlichen Sorge, und das Oberlandesgericht bestätigt diese Entscheidung. Wie passt das zusammen?
Im vom Oberlandesgericht Hamm entschiedenen Fall ging es um das Kind Y., geboren 2023 aus einer nichtehelichen Beziehung. Die Mutter war allein sorgeberechtigt, der Vater nicht mitsorgeberechtigt. Nachdem die Eltern bei einer U3-Untersuchung auf Auffälligkeiten hingewiesen hatten, kam das Kind in eine Kinderklinik. Dort wurden im Verlauf der Untersuchungen mehrere Rippenbrüche festgestellt, insgesamt eine Reihenfraktur von neun Rippen mit Einblutung in den Brustkorb. Die Ärzte stuften den Zustand als lebensbedrohlich ein und hielten eine massive Kompression des Brustkorbs für zwingend erforderlich, um diese Verletzungen zu erklären. Alltagsunfälle oder die von den Eltern geschilderte Episode mit einer Katze kamen als Ursache ersichtlich nicht in Betracht.
Das Jugendamt nahm das Kind daraufhin in Obhut. Im parallelen Strafverfahren wurde ein rechtsmedizinisches Gutachten eingeholt, das sämtliche Erklärungsversuche der Eltern als ungeeignet einstufte, das Verletzungsbild zu erklären. Weil aber nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden konnte, welcher Elternteil die Misshandlung begangen hatte, stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Strafrechtlich galt somit die Unschuldsvermutung fort.
Familienrechtlich ordnete das Amtsgericht gleichwohl einschneidende Maßnahmen an. Der Mutter wurden das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen sowie die schulischen und vorschulischen Angelegenheiten entzogen und auf das Jugendamt als Ergänzungspfleger übertragen. Zwischenzeitlich kam das Kind in eine Dauerpflegefamilie. Die Mutter legte Beschwerde ein und argumentierte im Kern, da die Ursache der Verletzungen ungeklärt und sie strafrechtlich nicht verurteilt sei, liege keine beweisbare Kindeswohlgefährdung vor. Außerdem habe sie sich bei den Umgangskontakten aus Sicht des Jugendamtes „bewährt“ und könne mit milderen Mitteln, etwa einer Mutter-Kind-Einrichtung, unterstützt werden.
Das Oberlandesgericht Hamm hat diese Argumentation zurückgewiesen und den Sorgerechtsentzug bestätigt. Ausgangspunkt ist § 1666 BGB: Das Familiengericht muss eingreifen, wenn eine gegenwärtige Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes besteht und die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, diese Gefahr abzuwenden. Anders als im Strafrecht geht es nicht um den Nachweis individueller Schuld, sondern um eine Gefahrenprognose. Maßstab ist dabei nicht „letzter Zweifel“, sondern eine begründete, kindeswohlorientierte Wahrscheinlichkeit.
Das Gericht stellt klar, dass schon der feststehende Sachverhalt – lebensbedrohliche Verletzungen eines Säuglings, die nur durch massive Gewalt erklärbar sind – eine gravierende Kindeswohlgefährdung dokumentiert. Diese Verletzungen sind unstreitig während der Betreuung durch die Eltern entstanden. Damit ist die tatbestandliche Schwelle des § 1666 BGB überschritten. Wer auch immer von beiden gehandelt hat, der gefährliche Vorfall ist der elterlichen Betreuungssphäre zuzurechnen.
Hinzu tritt die sogenannte Subsidiaritätsklausel: Der Staat darf erst dann eingreifen, wenn Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Gefahr künftig zu bannen. Genau hier setzt das Oberlandesgericht an. Die Eltern sind nach wie vor nicht in der Lage zu erklären, wie es zu den Verletzungen gekommen ist. Sie können weder konkrete Umstände benennen noch Verantwortung übernehmen oder Schutzkonzepte entwickeln. Für das Gericht ist damit erkennbar, dass sie die Gefahrenlage nicht wirklich durchdrungen haben und kein tragfähiger Ansatz besteht, erneute Misshandlungen zuverlässig auszuschließen. Der Unwille oder die Unfähigkeit zur Aufklärung wird als Indiz dafür gewertet, dass sie auch künftig nicht in der Lage sind, das Kind ausreichend zu schützen.
Besondere Bedeutung hatte im Beschluss die Frage der Verhältnismäßigkeit. Die Entziehung wesentlicher Teile der elterlichen Sorge ist ein schwerer Eingriff in das Elternrecht aus Art. 6 GG. Das Oberlandesgericht stellt sich hier in die Linie der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht: Je schwerer der drohende Schaden für das Kind wiegt, desto geringer dürfen die Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit sein. Bei einem Säugling, der bereits lebensbedrohlich misshandelt wurde, wiegen die drohenden Schäden denkbar schwer. In der Gesamtbetrachtung kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass bei einer Rückkehr des Kindes in den Haushalt der Mutter – inzwischen wieder gemeinsam mit dem Kindesvater – mit ziemlicher Sicherheit erneut eine erhebliche Gefährdung zu erwarten ist. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Kleinkinder sich nicht selbst schützen und zunächst auch nicht zuverlässig mitteilen können, was ihnen geschieht.
Das Argument der Mutter, sie habe sich in den Umgangssituationen „bewährt“, verfängt nicht. Das Gericht folgt der Sachverständigen, wonach von einem Augenblicksversagen in einer spezifischen Überforderungssituation auszugehen ist. Solche Situationen seien im Rahmen begrenzter, vorbereiteter Umgangskontakte, teilweise in Anwesenheit der Pflegemutter oder des Pflegekinderdienstes, gar nicht entstanden. Auch die Bereitschaft der Großmutter, das Kind aufzunehmen, genügt nicht, weil die Mutter im selben Haus lebt und eine räumliche und emotionale Abgrenzung damit tatsächlich nicht erreichbar erscheint.
Schließlich setzt sich der Senat mit dem häufig missverstandenen Spannungsverhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Kinderschutz auseinander. Die strafrechtliche Unschuldsvermutung gilt für die Frage, ob ein Elternteil bestraft werden darf. Sie hindert das Familiengericht aber nicht daran, aus feststehenden Tatsachen – hier dem objektiv belegten Verletzungsbild – eine Gefahrenprognose abzuleiten und Maßnahmen zum Schutz des Kindes zu ergreifen. Mit anderen Worten: Das Gericht muss niemanden „verurteilen“, um gleichwohl zu der Einschätzung zu gelangen, dass ein Verbleib des Kindes im elterlichen Haushalt unvertretbar wäre.
Die Entscheidung des OLG Hamm macht deutlich, dass bei schwersten Misshandlungen eines Säuglings eine Rückführung in den elterlichen Haushalt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommt. Solange nicht geklärt ist, wer die Tat begangen hat, und solange die Eltern nicht in der Lage sind, eine nachvollziehbare Erklärung zu geben und überzeugende Schutzkonzepte zu entwickeln, wird das Familiengericht zum Schutz des Kindes regelmäßig von einem anhaltend hohen Wiederholungsrisiko ausgehen. Für betroffene Eltern bedeutet dies, dass der Weg zurück zu gemeinsamem Leben mit dem Kind nur über eine sehr ernsthafte, transparente Auseinandersetzung mit dem Geschehen und intensive Mitwirkung an Hilfen möglich ist – und selbst dann bleibt die Hürde hoch, wenn das Kind in einer stabilen Pflegefamilie angekommen ist.
Bernd Giese, Rechtsanwalt
(OLG Hamm, Beschluss vom 16.07.2025 – 4 UF 213/24)
Der Fall wirkt auf den ersten Blick verstörend und ist in der familiengerichtlichen Praxis gleichwohl nicht selten: Ein wenige Wochen altes Kind erleidet schwerste Verletzungen, die nur durch massive Gewalteinwirkung erklärbar sind. Strafrechtlich lässt sich nicht nachweisen, welcher Elternteil verantwortlich ist – das Verfahren wird eingestellt. Trotzdem entzieht das Familiengericht der Kindesmutter wesentliche Teile der elterlichen Sorge, und das Oberlandesgericht bestätigt diese Entscheidung. Wie passt das zusammen?
Im vom Oberlandesgericht Hamm entschiedenen Fall ging es um das Kind Y., geboren 2023 aus einer nichtehelichen Beziehung. Die Mutter war allein sorgeberechtigt, der Vater nicht mitsorgeberechtigt. Nachdem die Eltern bei einer U3-Untersuchung auf Auffälligkeiten hingewiesen hatten, kam das Kind in eine Kinderklinik. Dort wurden im Verlauf der Untersuchungen mehrere Rippenbrüche festgestellt, insgesamt eine Reihenfraktur von neun Rippen mit Einblutung in den Brustkorb. Die Ärzte stuften den Zustand als lebensbedrohlich ein und hielten eine massive Kompression des Brustkorbs für zwingend erforderlich, um diese Verletzungen zu erklären. Alltagsunfälle oder die von den Eltern geschilderte Episode mit einer Katze kamen als Ursache ersichtlich nicht in Betracht.
Das Jugendamt nahm das Kind daraufhin in Obhut. Im parallelen Strafverfahren wurde ein rechtsmedizinisches Gutachten eingeholt, das sämtliche Erklärungsversuche der Eltern als ungeeignet einstufte, das Verletzungsbild zu erklären. Weil aber nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festgestellt werden konnte, welcher Elternteil die Misshandlung begangen hatte, stellte die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Strafrechtlich galt somit die Unschuldsvermutung fort.
Familienrechtlich ordnete das Amtsgericht gleichwohl einschneidende Maßnahmen an. Der Mutter wurden das Aufenthaltsbestimmungsrecht, die Gesundheitsfürsorge, das Recht zur Beantragung von Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen sowie die schulischen und vorschulischen Angelegenheiten entzogen und auf das Jugendamt als Ergänzungspfleger übertragen. Zwischenzeitlich kam das Kind in eine Dauerpflegefamilie. Die Mutter legte Beschwerde ein und argumentierte im Kern, da die Ursache der Verletzungen ungeklärt und sie strafrechtlich nicht verurteilt sei, liege keine beweisbare Kindeswohlgefährdung vor. Außerdem habe sie sich bei den Umgangskontakten aus Sicht des Jugendamtes „bewährt“ und könne mit milderen Mitteln, etwa einer Mutter-Kind-Einrichtung, unterstützt werden.
Das Oberlandesgericht Hamm hat diese Argumentation zurückgewiesen und den Sorgerechtsentzug bestätigt. Ausgangspunkt ist § 1666 BGB: Das Familiengericht muss eingreifen, wenn eine gegenwärtige Gefahr für das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes besteht und die Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, diese Gefahr abzuwenden. Anders als im Strafrecht geht es nicht um den Nachweis individueller Schuld, sondern um eine Gefahrenprognose. Maßstab ist dabei nicht „letzter Zweifel“, sondern eine begründete, kindeswohlorientierte Wahrscheinlichkeit.
Das Gericht stellt klar, dass schon der feststehende Sachverhalt – lebensbedrohliche Verletzungen eines Säuglings, die nur durch massive Gewalt erklärbar sind – eine gravierende Kindeswohlgefährdung dokumentiert. Diese Verletzungen sind unstreitig während der Betreuung durch die Eltern entstanden. Damit ist die tatbestandliche Schwelle des § 1666 BGB überschritten. Wer auch immer von beiden gehandelt hat, der gefährliche Vorfall ist der elterlichen Betreuungssphäre zuzurechnen.
Hinzu tritt die sogenannte Subsidiaritätsklausel: Der Staat darf erst dann eingreifen, wenn Eltern nicht willens oder in der Lage sind, die Gefahr künftig zu bannen. Genau hier setzt das Oberlandesgericht an. Die Eltern sind nach wie vor nicht in der Lage zu erklären, wie es zu den Verletzungen gekommen ist. Sie können weder konkrete Umstände benennen noch Verantwortung übernehmen oder Schutzkonzepte entwickeln. Für das Gericht ist damit erkennbar, dass sie die Gefahrenlage nicht wirklich durchdrungen haben und kein tragfähiger Ansatz besteht, erneute Misshandlungen zuverlässig auszuschließen. Der Unwille oder die Unfähigkeit zur Aufklärung wird als Indiz dafür gewertet, dass sie auch künftig nicht in der Lage sind, das Kind ausreichend zu schützen.
Besondere Bedeutung hatte im Beschluss die Frage der Verhältnismäßigkeit. Die Entziehung wesentlicher Teile der elterlichen Sorge ist ein schwerer Eingriff in das Elternrecht aus Art. 6 GG. Das Oberlandesgericht stellt sich hier in die Linie der Rechtsprechung von Bundesgerichtshof und Bundesverfassungsgericht: Je schwerer der drohende Schaden für das Kind wiegt, desto geringer dürfen die Anforderungen an die Eintrittswahrscheinlichkeit sein. Bei einem Säugling, der bereits lebensbedrohlich misshandelt wurde, wiegen die drohenden Schäden denkbar schwer. In der Gesamtbetrachtung kommt der Senat zu dem Ergebnis, dass bei einer Rückkehr des Kindes in den Haushalt der Mutter – inzwischen wieder gemeinsam mit dem Kindesvater – mit ziemlicher Sicherheit erneut eine erhebliche Gefährdung zu erwarten ist. Dabei spielt auch eine Rolle, dass Kleinkinder sich nicht selbst schützen und zunächst auch nicht zuverlässig mitteilen können, was ihnen geschieht.
Das Argument der Mutter, sie habe sich in den Umgangssituationen „bewährt“, verfängt nicht. Das Gericht folgt der Sachverständigen, wonach von einem Augenblicksversagen in einer spezifischen Überforderungssituation auszugehen ist. Solche Situationen seien im Rahmen begrenzter, vorbereiteter Umgangskontakte, teilweise in Anwesenheit der Pflegemutter oder des Pflegekinderdienstes, gar nicht entstanden. Auch die Bereitschaft der Großmutter, das Kind aufzunehmen, genügt nicht, weil die Mutter im selben Haus lebt und eine räumliche und emotionale Abgrenzung damit tatsächlich nicht erreichbar erscheint.
Schließlich setzt sich der Senat mit dem häufig missverstandenen Spannungsverhältnis zwischen Unschuldsvermutung und Kinderschutz auseinander. Die strafrechtliche Unschuldsvermutung gilt für die Frage, ob ein Elternteil bestraft werden darf. Sie hindert das Familiengericht aber nicht daran, aus feststehenden Tatsachen – hier dem objektiv belegten Verletzungsbild – eine Gefahrenprognose abzuleiten und Maßnahmen zum Schutz des Kindes zu ergreifen. Mit anderen Worten: Das Gericht muss niemanden „verurteilen“, um gleichwohl zu der Einschätzung zu gelangen, dass ein Verbleib des Kindes im elterlichen Haushalt unvertretbar wäre.
Die Entscheidung des OLG Hamm macht deutlich, dass bei schwersten Misshandlungen eines Säuglings eine Rückführung in den elterlichen Haushalt nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommt. Solange nicht geklärt ist, wer die Tat begangen hat, und solange die Eltern nicht in der Lage sind, eine nachvollziehbare Erklärung zu geben und überzeugende Schutzkonzepte zu entwickeln, wird das Familiengericht zum Schutz des Kindes regelmäßig von einem anhaltend hohen Wiederholungsrisiko ausgehen. Für betroffene Eltern bedeutet dies, dass der Weg zurück zu gemeinsamem Leben mit dem Kind nur über eine sehr ernsthafte, transparente Auseinandersetzung mit dem Geschehen und intensive Mitwirkung an Hilfen möglich ist – und selbst dann bleibt die Hürde hoch, wenn das Kind in einer stabilen Pflegefamilie angekommen ist.
Bernd Giese, Rechtsanwalt