Wann gibt es Schmerzensgeld für ein Schleudertrauma?

26.03.2021, Redaktion Anwalt-Suchservice / Lesedauer ca. 4 Min. (3315 mal gelesen)
Schleudertrauma,HWS,Unfall,medizinisches Gutachten Schleudertrauma: Der Streit mit den Versicherungen © - freepik

Ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule ist schmerzhaft. Es kann als Folge von Autounfällen auftreten. Vor Gericht ist es oft umstritten - denn für die Versicherungen entstehen hohe Kosten.

Vor Jahren wurde zeitweise nach praktisch jedem Verkehrsunfall Schmerzensgeld für ein Schleudertrauma geltend gemacht. Schließlich wurde es den Versicherungen zu bunt, und sie hielten dagegen – mit Gutachten, nach denen es jedenfalls bei geringen Aufprallgeschwindigkeiten gar kein Schleudertrauma geben kann. Zum Teil wurden ohne Begutachtung des Patienten nur anhand von Unfallfotos Ansprüche abgeschmettert. Manch ein Gutachter lebte praktisch von diesem Thema. Wie stehen heute die Gerichte dazu?

Was ist ein HWS-Schleudertrauma?


Ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS) entsteht bei einem Autounfall meist bei einem Heck- oder Seitenaufprall. Bei solchen Unfällen wird der Hals-/Nacken-/Kopfbereich zuerst ruckartig gebeugt und dann überdehnt und überstreckt. Davon sind meist Muskeln und Bindegewebe betroffen. Ein Schleudertrauma kann Schmerzen, Verspannungen und Fehlhaltungen zur Folge haben, in schweren Fällen sind auch Taubheitsgefühle in den Gliedmaßen sowie Schwindelanfälle möglich. Hat der Patient bereits eine Vorerkrankung der Wirbelsäule, kann es auch zu schlimmeren Folgen kommen.

Ablehnende Argumentation der Versicherungen


Besonders bei Unfällen mit geringem Sachschaden argumentiert die Versicherung des Unfallgegners häufig, dass es sich um einen Unfall mit geringer Aufprallwucht gehandelt habe. Deswegen sei es von vornherein gar nicht möglich, dass ein Schleudertrauma aufgetreten sein könne. Wenn die Geschwindigkeitsänderung durch den Aufprall nicht mehr als zehn km/h betrage, sei ein Schleudertrauma generell ausgeschlossen. Dies ist die sogenannte „Harmlosigkeitsgrenze“.

Diese Argumentation hat dazu geführt, dass die Versicherungen gerade bei vielen Unfällen im Stadtverkehr eine Zahlung vermeiden konnten. In vielen Gerichtsverfahren wurden sogenannte biomedizinische Gutachten von rechtsmedizinischen Instituten vorgelegt, die zwar den Patienten gar nicht untersucht hatten, aber aufgrund von Unfallfotos entschieden, dass ein Schleudertrauma ganz unmöglich war. So wurde praktisch davon ausgegangen, dass viele Patienten Simulanten waren. Allerdings ist diese Art der Diagnose durchaus auch in medizinischen Kreisen sehr umstritten.

Was sagte der Bundesgerichtshof zur Harmlosigkeitsgrenze?


2003 entschied der Bundesgerichtshof, dass man bei der Frage, ob ein Auffahrunfall eine Verletzung der Halswirbelsäule verursacht habe, immer auf den Einzelfall abstellen müsse. Man könne nicht einfach pauschal unterstellen, dass bei Unfällen unterhalb einer bestimmten Geschwindigkeit keine Verletzung möglich wäre. Es hänge nicht allein von der Geschwindigkeit ab, ob ein Unfall für eine Verletzung ursächlich sei, sondern auch von anderen Faktoren wie der Sitzposition.

Der BGH meinte, dass ein biomedizinisches Gutachten über die Geschwindigkeitsänderung im konkret verhandelten Fall nicht weiter zur Aufklärung beitragen könne. Stattdessen berücksichtigten die Richter die Aussagen der behandelnden Ärzte. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass der Patient tatsächlich durch den Unfall verursachte Beschwerden hatte. Für diese sei Schmerzensgeld zu zahlen (Urteil vom 28. Januar 2003, Az. VI ZR 139/02).

Schleudertrauma: Was gilt für eine Frontalkollision?


Der Bundesgerichtshof bestätigte seine Rechtsprechung 2008 im Fall eines Frontalaufpralls. Auch hier kam das Gericht zu dem Ergebnis, dass die Vorinstanz nicht verpflichtet gewesen sei, ein Gutachten über die „Aufprallgeschwindigkeit“ einzuholen. Ausreichend sei die Aussage des behandelnden Arztes und einer Unfallzeugin. Eine HWS-Verletzung könne auch bei einer Frontalkollision nicht pauschal ausgeschlossen werden, nur weil der Unfall mit geringer Geschwindigkeit passiert sei (Urteil vom 8. Juli 2008, Az. VI ZR 274/07).

Fall: Simultanes Trauma bei Ehepartnern


2011 beschäftigte sich das Amtsgericht Köln mit dem Unfall eines Ehepaares. Ein anderes Fahrzeug war auf das Heck ihres Autos aufgefahren. Noch am Unfalltag wurde bei beiden ein Schleudertrauma festgestellt. Die gegnerische Versicherung bezahlte zwar den Fahrzeugschaden, verweigerte aber die Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld hinsichtlich des Schleudertraumas. Die festgestellte Aufprallgeschwindigkeit habe nur neun bis 11 km/h betragen.
Das Gericht erklärte, dass nach der oben zitierten BGH-Entscheidung die Geschwindigkeit allein nicht mehr entscheidend sein könne. Es hatte einen medizinischen Sachverständigen angehört, der die Kläger auch selbst untersucht hatte. Dieser hatte sämtliche Faktoren berücksichtigt – nicht nur Unfallsituation und Geschwindigkeit, sondern auch Alter und Vorerkrankungen des Ehepaares. Das Gericht führte deren Beschwerden auf den Unfall zurück und sprach beiden ein Schmerzensgeld von 600 bzw. 700 Euro zu (Urteil vom 17.08.2011, Az. 261 C 289/09).

Wie wird ein Arbeitsausfall berücksichtigt?


Wie viel Schmerzensgeld gezahlt werden muss, hängt unter anderem davon ab, wie schwer die Folgen des Unfalls sind. Ein HWS-Trauma kann Schmerzen und Verspannungen verursachen, die nach vier Wochen wieder verschwunden sind. Genauso kann es aber auch zu erheblichen Bewegungsbeeinträchtigungen und dauerhaften Beschwerden führen. Das Amtsgericht München hielt in einem Urteil 2.000 Euro Schmerzensgeld für angemessen. Die Klägerin hatte nach einem Heckaufprall monatelang starke Schmerzen gehabt. Sie war wegen des Schleudertraumas sechs Wochen lang krankgeschrieben gewesen (Urteil vom 29.01.2013, Az. 332 C 21014/12).

Bloße Möglichkeit eines Traumas reicht nicht aus


Das OLG Brandenburg wies die Klage eines Mannes auf Schadensersatz und Schmerzensgeld ab. In diesem Fall hatte ein Sachverständiger festgestellt, dass der Mann möglicherweise durch den Unfall eine psychisch bedingte Distorsion der Halswirbelsäule erlitten habe. Der Kläger forderte über 30.000 Euro Schadensersatz, da ihm durch die Beeinträchtigungen ein Bonus seines Arbeitgebers entgangen sei. Das Gericht wies die Klage ab: Der Mann habe nicht nachgewiesen, dass das Beschwerdebild biomechanisch ursächlich auf den Verkehrsunfall zurückzuführen sei. Eine bloße Möglichkeit reiche nicht aus (Urteil vom 17.5.2018, Az. 12 U 169/16).

Auf die Schmerzen kommt es an


Der Bundesgerichtshof hat sich in einer Entscheidung von 2020 zur Beweisführung in Schleudertrauma-Fällen geäußert. Zwar war im verhandelten Fall das Vorliegen einer "HWS-Distorsion" nicht durch medizinische Gutachten bewiesen. Aus Sicht der Richter kamen aber die starken Nacken-und Kopfschmerzen der betroffenen Frau ebenfalls als Primärverletzung in Betracht. Es komme darauf an, ob diese Schmerzen unfallbedingt waren und zur Arbeitsunfähigkeit der Frau geführt hätten. Da das Gericht der Vorinstanz dies nicht geklärt hatte, wurde der Fall zurückverwiesen (Urteil vom 23.6.2020, Az. VI ZR 435/19).

Praxistipp zum HWS-Schleudertrauma


Ein Schmerzensgeld wegen eines Schleudertraumas kann heute in der Regel nicht mehr mit Verweis auf die geringe Aufprallgeschwindigkeit allein verweigert werden. Auch bei nachgewiesenen Schmerzen ohne medizinisch belegtes Schleudertrauma ist grundsätzlich ein Schmerzensgeld nicht ausgeschlossen. Eine Beratung durch einen Fachanwalt für Verkehrsrecht kann Betroffenen helfen, die Erfolgschancen einer Klage gegen die gegnerische Versicherung abzuwägen.

(Wk)


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 Günter Warkowski
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