Unfälle bei Schnee und Glatteis: Wann haftet die Gemeinde?

15.12.2022, Redaktion Anwalt-Suchservice
Schnee,Glatteis,Winterdienst,Gehweg,Schneeräumen,Streuen Winterdienst räumt auf dem Gehweg Schnee © Bu - Anwalt-Suchservice

Im Winter kommt es durch Schnee und Eis häufig zu Stürzen und Verletzungen. Manchmal haften auch Gemeinden und Vater Staat für die Folgen. Aber: Der Haftung staatlicher Stellen sind Grenzen gesetzt.

Wer eine mögliche Gefahrenquelle schafft oder unterhält, muss alles Zumutbare unternehmen, um zu verhindern, dass andere dadurch zu Schaden kommen. Dies nennt man auch die Verkehrssicherungspflicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass nun jede erdenkliche Gefahr ausgeschlossen werden muss. So etwas könnte niemand leisten. Stattdessen muss sich der Verpflichtete in erster Linie um die Gefahren kümmern, die er als solche erkennen kann.
Gemeinden haben bei ihren öffentlichen Wegen, Straßen und Plätzen eine solche Verkehrssicherungspflicht. Sie können diese auf andere übertragen – etwa auf Anlieger. Dann müssen diese die öffentlichen Gehwege vor ihrem Grundstück schnee- und eisfrei halten. Für Straßen außerorts sind andere staatliche Stellen zuständig.

Winterdienst: Bund, Land, Kreis oder Gemeinde zuständig?


In Deutschland gibt es unterschiedliche Straßenklassen. Sie unterscheiden sich darin, wer der Träger der Straßenbaulast und daher für ihren Bau und ihre Instandhaltung zuständig ist. Für Bundesautobahnen und Bundesstraßen ist der Bund zuständig, für Landesstraßen (in Bayern und Sachsen "Staatsstraßen" genannt) das jeweilige Bundesland. Für Kreisstraßen ist der jeweilige Kreis verantwortlich und für Gemeindestraßen natürlich die Gemeinde.

Was bedeutet die Verkehrssicherungspflicht der Gemeinde im Winter?


Die Gemeinde ist für eine Gemeindestraße grundsätzlich verkehrssicherungspflichtig. Das bedeutet: Sie muss im Winter Schneeräumen und gegen Glatteis streuen. Diese Pflicht hat jedoch Grenzen: Auch die Gerichte wissen, dass nicht alle öffentlichen Straßen gleichzeitig morgens um sieben Uhr schnee- und eisfrei sein und dies dann den ganzen Tag auch bleiben können. Schließlich muss die Räumpflicht für die Gemeinde praktisch durchführbar und wirtschaftlich noch zumutbar sein. Daher dürfen Gemeinden Prioritäten setzen: Beim Winterdienst haben verkehrsreiche Straßen und Gefahrenschwerpunkte Vorrang.

Hat die Gemeinde einen Streuplan aufgestellt, der ein angemessenes und rechtzeitiges Räumen und Streuen der öffentlichen Straßen sicherstellt, und hält sie sich auch daran, haftet sie bei Glatteisunfällen nicht. Dies hat das Oberlandesgericht Hamm entschieden.

In Essen war ein Mann eines Vormittags im Dezember auf dem ungestreuten Fußgängerüberweg einer größeren Straße ausgerutscht und hatte sich erheblich an Schulter und Arm verletzt. Er verlangte Schadensersatz und ein fünfstelliges Schmerzensgeld von der Stadt. Seine Klage blieb erfolglos: Der Streuplan der Stadt sah vor, dass das komplette Stadtgebiet innerhalb von fünf Stunden nach einem Schneefall geräumt und abgestreut werden sollte. Hier hatten die Verantwortlichen rechtzeitig Streualarm ausgelöst, sodass zügig damit angefangen worden war, die Straßen von Schnee und Eis zu befreien. Das Gericht erklärte, dass man einer Gemeinde vor Streubeginn einen gewissen Zeitraum für organisatorische Arbeiten zubilligen müsse. Sie hafte daher nicht für Unfälle, die trotz aller Sorgfalt an einer Stelle passierten, die einfach noch nicht an der Reihe gewesen sei (Urteil vom 7.12.2011, Az. I-9 U 113/10).

Welche Orte müssen vorrangig geräumt und gestreut werden?


Verkehrsflächen von eher untergeordneter Bedeutung müssen nicht zwingend zeitnah gestreut werden. Die Gemeinde muss sich schließlich um ihr gesamtes Gebiet kümmern. Viel befahrene Straßen und große Kreuzungen haben Vorrang. Dies bestätigte das Landgericht Coburg. Eine Frau war auf dem Parkplatz des öffentlichen Hallenbades gestürzt. Zwar hätte sie einen frisch gestreuten Fußweg zum Parkplatz nutzen können. Stattdessen kürzte sie jedoch über eine ungestreute Parkfläche ab, stürzte und verletzte sich. Das Gericht entschied: Für die Räum- und Streupflicht der Gemeinde sei die Relevanz der jeweiligen Verkehrsfläche und auch die Leistungsfähigkeit der Gemeinde entscheidend. Der Schwimmbad-Parkplatz habe nur geringe Priorität gehabt. Auch spiele hier eine Rolle, dass die Geschädigte die Möglichkeit gehabt habe, eine sichere Alternativroute zu nutzen (Urteil vom 11.5.2011, Az. 13 O 678/10).

Was gilt beim Unfall durch Eisglätte auf dem Radweg zur Schule?


Einer Radfahrerin sprach das Oberlandesgericht Oldenburg einen Anspruch auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zu. Die Frau hatte morgens ihr Kind zur Schule gebracht. Anschließend war sie um 7 Uhr 20 auf einem vereisten Radweg gestürzt. Dabei hatte sie sich den Ellbogen gebrochen.
Die Gemeinde lehnte jede Haftung ab. Laut ihrer eigenen Satzung sei sie erst ab 7 Uhr 30 zum Streuen und Schneeräumen verpflichtet. Das Gericht jedoch zog in Betracht, dass an den Schulen vor Ort um 7 Uhr 30 Schulbeginn war. Die örtlichen Discounter hätten ebenfalls bereits ab 7 Uhr geöffnet. Unter diesen Umständen müssten die Bürger nicht damit rechnen, dass wichtige Verkehrsknotenpunkte erst um 7 Uhr 30 gestreut würden. Zumindest auf wichtigen Straßen und Wegen müsse die Gemeine schneeräumen und gegen Glatteis streuen - und zwar, wenn nötig, auch außerhalb satzungsmäßig geregelter Zeiten (Urteil vom 30.4.2010, Az. 6 U 30/10).

Haftet die Gemeinde bei einem Glätteunfall in der Nacht?


In einem Verfahren vor dem Bundesgerichtshof ging es um eine verletzte Zeitungsausträgerin. Diese war auf einer Anliegerstraße morgens um 4 Uhr 30 bei Glatteis gestürzt. Der BGH erklärte: Die Gemeinde sei grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, vor sechs Uhr morgens zu räumen und zu streuen. Zwar könne ein vorbeugendes Streuen gegen Eisglätte auch bei Nacht ausnahmsweise an Stellen mit einem besonders hohen zu erwartenden Verkehrsaufkommen verlangt werden. Eine Anliegerstraße gehöre jedoch gerade nicht zu diesen Straßen. Wegen einzelner Personen, die außerhalb der streupflichtigen Zeiten auf der Straße unterwegs seien, wären keine besonderen Vorsorgemaßnahmen erforderlich (Beschluss vom 11.8.2009, Az. VI ZR 163/08).

Haftung der Gemeinde für Unfall beim Rodeln?


Wer im Stadtpark rodeln geht, tut dies in der Regel auf eigene Gefahr. Die Gemeinden sind grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, vor vereisten Stellen an Hängen Warnschilder aufzustellen oder Abhänge zu sperren, weil diese gefährliche Hindernisse aufwiesen. Dies betonte das Oberlandesgericht Hamm.
In dem Urteil ging es um einen Mann, der in Bochum beim Rodeln gestürzt war. Er hatte nicht gesehen, dass am unteren Ende des Hanges eine Steinmauer einen Absatz bildete. Das Gericht meinte, dass sich der Rodler zunächst einmal hätte vergewissern müssen, ob der Hang sicher sei – ganz besonders dann, wenn dort niemand anders rodelte und es sich nicht um eine "offizielle" Rodelpiste handelte (Urteil vom 3.9.2010, Az. I-9 U 81/10).

Wie ist die Haftung bei Unfällen, die außerorts passieren?


Das Oberlandesgericht Hamm hat auch zur "Schneeräumpflicht auf Kreisstraßen" entschieden. Es ging dabei um eine Frau aus Lünen, die im Dezember bei 3 Grad Celsius auf der Kreisstraße nach Haltern unterwegs gewesen war. Nach der Durchquerung eines Waldes geriet sie auf Glatteis in einer Kurve ins Schleudern. Sie kam von der Straße ab und kollidierte mit einer Baumgruppe. Ihr PKW kippte um und die Feuerwehr musste sie und ihre Beifahrerin bergen. Beide wurden verletzt. Anschließend verklagte die Frau den Kreis Recklinghausen: Die Straße sei spiegelglatt und nicht gestreut gewesen. Sie forderte unter anderem 2.300 Euro Schadensersatz für den Schaden am PKW, 3.900 Euro als Kosten für die Haushaltsführung während ihrer Verletzungszeit sowie 2.000 Euro Schmerzensgeld.
Das Gericht entschied jedoch zugunsten des Landkreises: Dieser habe seine Pflichten nicht verletzt. An der Unfallstelle habe keine Schneeräum- und Streupflicht bestanden. Außerhalb geschlossener Ortschaften sei die zuständige Behörde auf öffentlichen Straßen nur an besonders gefährlichen Stellen zum Streuen verpflichtet.

Was sind besondere Gefahrenstellen?


Dem OLG Hamm zufolge sind Verkehrsteilnehmer bei winterlichem Wetter dazu verpflichtet, den Zustand der Straße genauer zu beobachten und besondere Vorsicht walten zu lassen. Nur, wenn eine Gefahrenstelle trotz erhöhter Aufmerksamkeit von den Verkehrsteilnehmern nicht rechtzeitig zu erkennen sei, handle es sich um eine besondere Gefahrenstelle. Könnten Autofahrer eine besondere Glättegefahr an einer bestimmten Stelle vorhersehen, sei diese auch nicht als besonders gefährlich zu betrachten.

Im vorliegenden Fall habe sich der Glätteunfall nicht an einer Gefahrenstelle ereignet. An Stellen mit unterschiedlicher Sonneneinstrahlung und Bodenfeuchtigkeit bilde sich oft und mit hoher Wahrscheinlichkeit plötzlich Glatteis. Der Autofahrerin hätte hier klar sein müssen, dass die immer wieder neben der Straße stehenden Baumgruppen eine Verschattung der Straße bedeuten könnten, die zu Stellen mit Eisglätte führen könne. Es habe hier keine Umstände gegeben, die die Gefahr erhöhen könnten – etwa starkes Gefälle, seitliche Neigung oder besonders unübersichtliche Straßenführung. Hinzu komme, dass die Kreisstraße keine so große Bedeutung und kein so hohes Verkehrsaufkommen habe, dass sie vorrangig gestreut werden müsse (Urteil vom 12.8.2016, Az. 11 U 121/15).

Was gilt, wenn Unfälle außerorts bei Nacht passieren?


Ein Autofahrer klagte gegen den Freistaat Bayern. Der Mann war nachts auf der schneebedeckten Ausfahrt einer Staatsstraße ins Schleudern geraten. Dabei kam es zu einem Unfall. Er verlangte 1.500 Euro Schadenersatz plus 1.500 Euro Schmerzensgeld. Das Landgericht Coburg wies die Klage ab: Zwar sei grundsätzlich der Freistaat Bayern für diese Straße räumpflichtig. Trotzdem dürften Autofahrer nicht davon ausgehen, dass die Fahrbahn auch nachts ständig von Eis- und Schnee frei gehalten würde. Eine völlige Gefahrlosigkeit der Straßen sei mit zumutbaren Mitteln im Winter nicht zu erreichen und könne nicht verlangt werden (Az. 12 O 241/09).

Haben Räumfahrzeuge beim Schneeräumen Vorfahrt?


Räumfahrzeuge sind bei winterlichen Straßenverhältnissen Tag und Nacht unterwegs, um die Straßen von Eis und Schnee zu befreien. Sie werden jedoch immer wieder von Autofahrern behindert, die sie nicht vorbeilassen oder die nicht weit genug rechts fahren.
Autofahrer sollten hier besonders vorsichtig sein. Nach einem Urteil des
Landgerichts Coburg haben Räumfahrzeuge nämlich Vorfahrt! Kollidiert ein PKW wegen einer unangepassten Fahrweise mit einem Schneepflug, bleibt der Autofahrer womöglich auf seinem Schaden sitzen und haftet auch noch für den Fremdschaden.
Dem Gericht zufolge müssen Autofahrer bei Winterwetter damit rechnen, dass ihnen ein Schneepflug entgegenkommt oder langsam vor ihnen herfährt. Ihren Fahrstil müssen sie dann eben anpassen. Daher verurteilte das Gericht einen PKW-Fahrer nach einem Unfall mit einem Schneepflug zur Zahlung von rund 12.000 Euro: Er war 1,5 Meter zu weit links gefahren (Az. 11 O 780/00).

Praxistipp zu Unfällen bei Schnee und Eis


Ob Verkehrsteilnehmer nach Winterunfällen gegen Gemeinden, Landkreise oder Bundesländer Anspruch auf Schadensersatz haben, richtet sich unter anderem danach, ob an der Unfallstelle überhaupt geräumt werden musste. Dies hängt wiederum davon ab, wie wichtig die jeweilige Straße ist, welches Verkehrsaufkommen dort herrscht und wie die konkrete Gefahrenlage vor Ort ist. Die Erfolgschancen einer Klage kann ein Fachanwalt für Verkehrsrecht für Sie am besten einordnen.

(Ma)


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 Ulf Matzen
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